Freitag, 10. Dezember 2021

[Weihnachtscountdown 2021] Tag 10 - Beitrag 4 - Michael G. Spitzer

Die letzte Melderin und ihr erster Weihnachtsmarkt

Lange habe ich gezögert, wieder einen Fuß in diese Stadt zu setzen. In Hamburg wurde die letzte Melderin zur Botin, einer Botschafterin für ein Land, das auch hier so verhasst war. Meine Anwesenheit hier hätte ich beinahe mit dem Leben bezahlt. Doch hier schöpfte ich auch neue Hoffnung.
Nun, fünf Jahre nach dem ersten zaghaften Annäherns Irlands und der VFSE schlendern unsere beiden Kinder Ian-Richard und Kyra, mein Verbundener Jonas und ich durch die Speicherstadt dieser Metropole auf dem Kontinent. Sie dient nach Angaben eines Hotelangestellten lediglich zu Ausstellungszwecken und hin und wieder ein paar Events.
Etliche kleine Verkaufsstände wurde aufgebaut, aus denen augenscheinlich verschiedene Handarbeiten, Figuren, Nachbauten von Gebäuden, Kerzen und frisch zubereitete Speisen angeboten werden. Der Duft unterschiedlicher Gewürze steigt in meiner Nase auf und ich trete an einen dieser Holzbauten heran. Ein wenig erinnert mich dieser Ort an das Künstlerviertel in Belfast, in welchem ich zum ersten Mal meinen Großvater traf.
„Möchten die Kinder vielleicht einen meiner Kekse probieren, Miss Berg?“, fragt mich die ältere Frau in dem Stand und blickt abwechselnd zu mir, Ian-Richard und Kyra. Sie hält einen kleinen Bastkorb in der Hand, in welchem Gebäck in verschiedenen Formen liegt, und hält ihn in unsere Richtung.
Noch bevor ich mir Gedanken machen kann, wie tief mein Name noch in den Köpfen der Menschen dieses Landes verankert ist, zieht Ian Richard an meiner Hand. „Darf ich, Mama?“ Seine braunen Augen leuchten und ihr Strahlen zieht sich über das gesamte Gesicht.
„Natürlich darfst du.“ Ich wende meinen Blick auf die Frau mit den fast weißen Haaren. „Wenn dir jemand ein ehrliches Geschenk machen möchte, solltest du es nicht ablehnen.“
Die Verkäuferin lächelt und auch ihre blaugrauen Augen beginnen zu strahlen. „Das größte Geschenk haben Sie uns gemacht, Miss Berg, als Sie uns nach fast zwei Jahrhunderten endlich den Frieden brachten, den wir lange ersehnten.“
Um ihr meine aufsteigende Röte im Gesicht nicht zu zeigen, beuge ich mich zu Ian-Richard und hebe ihn hoch. Sofort greift er nach einem der Kekse und beißt genussvoll ein Stück ab.
„Bi finb klaffe“, ruft er förmlich nach zweimal Kauen mit vollem Mund, als ich ihn wieder absetze.
Schmunzelnd holt Jonas Kyra aus ihrem Kinderwagen und hält sie in Richtung des Bastkorbes, damit sie ihn sehen kann. Er nimmt ein Stück Gebäck heraus und reicht es ihr. Nach kurzem Zögern steckt sie es in den Mund, um darauf zu lutschen. Einem zunächst skeptischen Blick folgt ein tieferes Hineinschieben, gefolgt von einem Aufhellen ihres Gesichtsausdrucks.
„Den Kindern scheint es zu schmecken“, stellt die Frau scheinbar zufrieden mit einem großmütterlichen Lächeln fest. „Warten Sie.“ Sie greift unter den Holztresen und holt eine etwas größere, prall gefüllte Papiertüte hervor. „Die sind für Sie. Als kleines Dankeschön, dass Sie diese Stadt nicht vergessen haben.“
Erneut kann ich das Aufsteigen von Röte in meinem Gesicht nicht verhindern. „Das ist sehr freundlich und ich gebe das Dankeschön sehr gerne zurück.“
Jemand legt eine Hand auf meine Schulter. Ich drehe mich um und blicke in die braunen Augen von Sasha Grujic, meinem Verteidiger aus der damaligen Zeit in Hamburg.
„Hi Dan!“
„Sasha, was machst du denn hier?“ Noch bevor ich ihm die Chance für eine Antwort geben kann, falle ich ihm vor Freude um den Hals.
„Du glaubst doch nicht, dass ich nach alldem, was wir zusammen erlebt haben, deinen Weg nicht verfolge, oder?“ In sein Gesicht legt sich ein schelmisches Grinsen. Er blickt zu Jonas und legt den Kopf schief. „Du musst Jonas sein.“ Seine freundlichen Gesichtszüge ändern sich nicht.
Jonas zieht eine Braue hoch. „Und du bist derjenige, der Dan zur Seite stand, als praktisch alles den Bach runterging.“ Er blickt zu mir. „Ist er doch, oder?“ Ich nicke und Jonas reicht Sasha die freie Hand. „Danke, dass du auf sie aufgepasst hast.“
Verlegen nimmt Sasha Jonas‘ Hand entgegen, senkt den Kopf und blickt zu mir. Ich habe meinem Verbundenen nicht erzählt, dass der Anwalt aus Glasgow zeitweise mehr als Freundschaft im Sinn hatte. Doch das weiß Sasha nicht.
Ich lege eine Hand an seinen Arm, blicke aber zu Jonas. „Sasha war der einzige Freund, den ich noch hatte, als ich dachte, du wärst tot.“
Jonas nickt Sasha zu. „Dann gilt dir mein Dank erst recht.“
Kyra stößt einen quengelnden Laut aus und zeigt mit ihrer kleinen Hand zu dem Stand, vor dem wir stehen.
„Du möchtest mehr?“, fragt Jonas und blickt zu der Frau, die immer noch die Papiertüte mit dem Gebäck in ihrer Hand hält. Sie reicht ihm das verpackte Gebäck und schmunzelt.
„Für die Kleine und den Rest der Familie, Mr. Mendel.“
„Ihr habt nicht geheiratet?“, fragt mich Sasha mit hochgezogenen Brauen.
„Doch aber wir haben uns entschieden, unsere Namen zu behalten.“
Jonas öffnet die Tüte, nimmt zwei Kekse heraus und reicht einen davon mir. Ich nehme ihn entgegen und rieche daran. Er duftet wunderbar und mir läuft sofort das Wasser im Mund zusammen.
Nachdem ich ein Stück abgebissen habe, blicke ich mich um. Die Leute hier in diesen Hallen scheinen alle die Ruhe selbst zu sein. Sie schlendern an den Ständen vorbei, bleiben an einigen stehen, reden mit den Verkäufern, schauen sich deren kleine Kunstwerke an und gehen weiter. Manche entscheiden sich, etwas zu erwerben, andere begutachten lediglich die Auslage. Hier herrscht ein Frieden, den ich mir schon immer gewünscht und für den ich vor nicht allzu vielen Jahren gekämpft habe. Ich genieße diese Atmosphäre und drehe mich zu Sasha um.
„Gibt es sowas hier immer?“ Ich hoffe, er bejaht meine Frage, denn ich würde diese Ruhe gerne öfters in mich aufnehmen.
Er schüttelt den Kopf. „Nein, dies ist ein Markt, der nur zur Adventzeit errichtet wird.“
„Adventzeit?“ Ich dachte, ich kenne die Sprache außerhalb der Siedlung mittlerweile recht gut, doch dieses Wort habe ich noch nie gehört.
„Ja. Am Ende des Jahres wird durch eine religiöse Gemeinschaft Weihnachten gefeiert. Sie ehren damit einen Mann, der sein Leben dafür gab, dass die Menschen endlich in Frieden leben. Er scharte Anhänger um sich herum, die ihn als Sohn eines Gottes anbeteten, denn ein normaler Mensch würde dies nie tun.“ Er schmunzelt schelmisch und zieht eine Braue hoch.
Ich runzle die Stirn. Religionen waren einer der Gründe, warum es viele Kriege auf diesem Planeten gab. Plötzlich sehe ich diesen Ort mit anderen, skeptischeren Augen. Dies alles dient nur einem Glauben an ein Wesen, das Menschen erschafft und Kriege unter ihnen zulässt?
„Kaum zu glauben, oder?“ Jonas‘ Stimme in meinem rechten Ohr. Er scheint gerade das Gleiche zu denken wie ich.
Sasha tritt links neben mich. „Du scheinst nicht einverstanden damit zu sein, warum dieser Markt existiert.“
Ich drehe mich zu ihm um. „Ich halte nicht viel von Religionen.“
Er schürzt die Lippen und wiegt den Kopf hin und her. „Die wenigsten hier, vielleicht sogar niemand der Anwesenden tut das. Es ist eine alte Tradition, die weitergeführt wird.“ Sasha atmet tief ein. „Geh mal gedanklich von der Religion weg: Der Mann, dessen Geburt mit dem Weihnachtsfest gefeiert wird, wurde der Legende nach in dieser Nacht durch Könige mit wertvollen Geschenken überhäuft. Er schien etwas Besonderes für sie zu sein. Die ersten Menschen nach ihm feierten dies als Zeichen für seine Göttlichkeit. Erst viel Später wurden diese Märkte errichtet, da die Menschen ihre eigenen, wertvollen Begleiter in ihrem Leben hatten und diese ebenfalls beschenken wollten. Die Religion trat in den Hintergrund. Das Begehren der Menschen war es, den ihnen am nächsten stehenden Personen ein ähnliches Geschenk zu machen. Natürlich konnten nicht alle königliche Gaben reichen, doch es war der Gedanke, der zählt.“
Jonas runzelt die Stirn und verschränkt seine Arme vor der Brust. „Dies geht doch aber auch ohne eine zeitliche Einschränkung. Und mal ehrlich: Um jemandem zu zeigen, dass ich ihn mag oder für etwas Besonderes halte, brauche ich kein vorgegebenes Datum.“ Wie schon zu unseren Zeiten in der Siedlung spricht er aus, was ich gerade denke.
Sasha nickt. „Stimmt. Doch wenn man es täglich machen würde, wäre es nichts Besonderes mehr.“ Er hebt seine Hände. „Es war mal ein besonderes Datum für eine bestimmte Religion. Nun ist es ein Datum für die besonderen Menschen eines jeden Einzelnen.“
Jonas senkt gedankenversunken den Blick. Genau wie ich scheint er zu verstehen, was Sasha meint. Es kommt nicht auf irgendeinen Glauben an, sondern auf die Geste und die damit verbundene Zuneigung, die damit ausgedrückt wird.
Erneut schaue ich durch die Halle mit den einzelnen Ständen und beobachte die Menschen. Die Ruhe, die sie ausstrahlen, das Lächeln in ihren Gesichtern, wenn sie sich etwas anschauen, das ihnen offensichtlich gefällt. Mein Blick gleitet zu Ian-Richard, der sich einen weiteren Keks aus der Papiertüte holt, die mittlerweile auf Kyras Kinderwagen liegt. Er schließt kurz die Augen, als er hineinbeißt und ganz offensichtlich den Geschmack genießt. Ich sehe hoch zu der alten Frau, die Ian-Richards Reaktion auf das zweite Stück Gebäck in seinem Mund mit einem zufriedenen Lächeln wahrnimmt. Und da wird mir klar, dass alle Menschen hier und auf diesem Planeten etwas Besonderes sind. Jeder für sich und auf seine eigene, besondere Art und Weise. Alle haben ihre königlichen Geschenke verdient, nur ist nicht jeder in der Lage, sie auch zu bieten.
In mir formt sich die Erkenntnis, dass ich das Datum und dessen Ursprung nicht mag. Doch ich beginne, den Weihnachtsgedanken zu lieben.

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