Samstag, 11. Dezember 2021

[Weihnachtscountdown 2021] Tag 11 - Beitrag 7 - Christine Keller



Dienstag, 24. Dezember 2041, Weihnachtsfeier

Was auf der Bühne geschah, zog wie im Traum an mir vorbei. Ich sang, hörte die anderen singen und ließ Alex Berchtolds endlose Ansprache über mich ergehen. Faraday dies, Faraday das, Faraday forever - ein Wiegenlied.
Ashleys Kopf sank auf meine Schulter, eine Geste, die mich an unsere Taxifahrt erinnerte. Links von mir saß Silo. Mit versteinerter Miene starrte er nach vorne.
Meine Nervosität wuchs, je näher die Pause rückte. Ein Einzelauftritt vor der gesamten Schule war ein ganz anderes Kaliber als einer vor der 6a. Das erste Mal sollte ich ganz allein im Scheinwerferlicht stehen und lesen. Mehrere hundert Personen würden mir zuhören. Und mich ansehen! Ich bekam einen leichten Schweißausbruch und drehte den Kopf zurück, zur Reihe hinter mir.
»Bist du nervös?«
»Nein, Mama, ich bin die Ruhe in Person«, zischte ich und bat sie um ein Taschentuch. Ich wischte mir damit übers Gesicht.
»Du schaffst das«, flüsterte sie zurück.
Schüler der Oberstufe spielten Sketches in verschiedenen Sprachen, interviewten einander und zeigten Zaubertricks. Diverse Arbeiten aus dem Fotolabor wurden zu selbst komponierter Musik präsentiert. Nach jeder Darbietung folgte frenetischer Applaus. Bei den Sketches gab es sogar Vorhänge und die Schauspieler wurden mehrmals herausgeklatscht. Ich fragte mich langsam, wie ich mit meinem simplen Vortrag den Saal überzeugen konnte.
Endlich kam die Pause und erlöste mich.
Das Herumzappeln auf einem Faraday-Theatersessel ist gar nicht so einfach, denn diese sind so ergonomisch konstruiert, dass sie zum Stillsitzen zwingen und bei jeder Bewegung entweder in die Waden oder Kniekehlen drücken.
Ich schlenderte ein wenig umher, und als mich Ashley umarmte, war es das erste Mal, dass etwas, was sie tat, meinen Herzschlag verlangsamte. Glücklicherweise sagte sie dabei nichts zu meinem bevorstehenden Auftritt. Denn definitiv beruhigen konnte mich nur das Vorlesen selbst.
Dann war es so weit. Die Scheinwerfer bildeten eine Lichtinsel um mich.
»Das ist unser Wettbewerbsgewinner, Fortunatus Wiesendanger. Er hat sich dem Thema ›Was uns die Zukunft bringt‹ auf sehr eigenwillige Art gestellt.«
Adrian Stern plauderte am Mikrofon neben mir drauf los, als wenn er auf Xaanos ein Conférencier wäre. Endlich kam er an ein Ende. Es wurde auf einen Schlag still im Saal. Nur ich räusperte mich, was das Mikrofon in das Fauchen eines Drachen verwandelte.
Kontakt zum Publikum aufnehmen, hatte mir Adri gepredigt. Ich ließ meinen Blick über die Reihen schweifen. Neugierige, interessierte Blicke trafen mich, keinerlei Ablehnung war zu spüren. Ich fühlte, wie ich mich entspannte und lächelte sogar leicht ins Publikum.
Was uns die Zukunft bringt
Dieser Titel stellt gleich zwei Fragen: GIBT es die Zukunft überhaupt?
Und: BRINGT sie uns etwas? Oder bilden wir uns das eine oder das andere oder auch beides nur ein? Eines ist klar: die Gegenwart ist oft echt schwer zu ertragen.
Dies war mein Text, doch ich sagte ihn nicht gleich auf. Eine Regung in mir ließ mich näher zum Mikrofon treten.
»Ich widme diesen Text meinem Freund Silvan, genannt Silo. Dem besten Freund in guten und schlechten Zeiten.«
Es war totenstill, dann klatschten einige aus meiner Klasse und wie ein Buschfeuer griff das Klatschen auf den Saal über. Das ganze Publikum klatschte. Für Silo? Für meinen eigenen Mut?
Ich war der geborene Schauspieler. Ich spielte sogar mit dem Publikum! Sogar meine Klasse klatschte für meine Aussage. Dieselbe Klasse, von der ich noch vor kurzem geglaubt hatte, dass sie mich, das Lehrersöhnchen, verachtete. Zusätzlich zum Scheinwerferlicht breitete sich Wärme in mir aus.
Es lief wie am Schnürchen bis zu dem Satz, den ich nur für die Aufführung dazu erfunden hatte.
»Ich kann der Gegenwart gar nicht entfliehen, denn sie ist ein Teil meines Seins.«
Es war ein ausgezeichneter Satz, aber mit dem tosenden Applaus, der nun einsetzte, hatte ich auf keinen Fall gerechnet. Gut, vielleicht war der Satz sogar genial, und ich war auf dem besten Weg ein neuer Philosophiestar in den Medien zu werden. Bald würde ich Bücher schreiben und einen Großteil meines Lebens auf der Bühne verbringen. Mein Vater würde mich zu meinen Terminen chauffieren …
Sorry, nein, so verlief meine Performance leider nicht. Kommen wir nun zur wahren Geschichte:
Kontakt zum Publikum aufnehmen, hatte mir Adri zwar eingeprägt, aber als ich die Richtung sah, in welcher ich das Publikum vermutete, sah ich nur Schatten und Punkte. Vielleicht hatte ich eine Sehstörung oder eine nervöse Migräne.
Tatsache war, dass ich für den Rest des Auftritts meine Augen senkte. Ich konnte es nicht, dieses Spiel mit dem Publikum. Ich klebte sozusagen an meinem Text.
Die geplante Widmung an meinen Freund Silo ertrank im Schweiß, der mein Faraday-Hemd durchweichte. Ich lernte mich sogar als Stotterer, genauer gesagt als Wortwiederholer, kennen.
»Dieser … dieser Titel stellt gleich … gleich zwei Fragen. Gibt … gibt es die Zukunft … die Zukunft überhaupt?
Schon bald einmal bemerkte ich, dass diese Verdopplungen meinem Text eine ironische Note verliehen. Es war eine unfreiwillige Komik, vor der ich noch mehr meinen Blick senkte. Ich wollte keinesfalls sehen, wie das Publikum reagierte. Nur ganz kurz schielte ich zu Adri hinüber, der mir ermunternd zuzwinkerte.
»Bitte Platz machen für die nächste Produktion«, tönte es unangenehm geschäftig an meiner Seite. Mein Kopf schnellte hoch. Eine Lehrerin unserer Parallelklasse, der 6b, stand neben Adri und winkte mich zum Bühnenabgang.
Benommen stieg ich in den Saal hinunter, vorbei an der Tafel: Achtung, Absturzgefahr.
»Hey, es war nicht so schlimm«, versuchte mich Ashley zu trösten, als ich wieder unten ankam.
Silo lächelte verkrampft. Er schien meinen missglückten Auftritt gar nicht bemerkt zu haben.
Die Produktionen nach mir versanken in einem Nebel.
So richtig wachte ich erst auf, als das Krippenspiel der Kleinen angekündigt wurde. Die Truppe der Klassen 1a und 1b bewegte sich durch die Publikumsgänge auf die Bühne zu und schon jetzt wurde klar, dass die Kids den Saal so richtig rocken würden.
Anani, der kleingewachsene Bruder von Bonjour, balancierte allen voran die Krippe auf dem Kopf. Die Krippe war aus Plastik und hüpfte dabei, denn Anani verbeugte sich gekonnt nach allen Seiten. Nicht eifersüchtig werden, mahnte ich mich selbst, es gibt einfach schauspielerische Naturtalente. Du gehörst nicht dazu, Fortunatus.
Die Könige wurden von Mädchen gespielt, vielleicht, weil es in den unteren Klassen viel mehr von ihnen als Jungen gab. Als Zeichen der Männlichkeit hatten die drei »Könige« Bärte angeklebt.
Die Hirten trugen Baguettes mit sich und in einem Tupperware-Gefäß diese kleinen Käse, die zu einem guten Faraday-Frühstück gehören. Es war ein stattliches Käsehäufchen. Wie es aussah, hatten die Knirpse lange gesammelt, um hier ein Picknick auf freiem Feld zu inszenieren.
Ein Schüler, Sandro Soundso, stellte sich auf und rezitierte die Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums. Das war eine ehrwürdige Tradition an der Faraday. Auch Sandro zeigte, im Gegensatz zu mir, nicht die geringste Mühe, mit dem Publikum Kontakt aufzunehmen. Beziehungsweise das Publikum nahm von selbst den Kontakt mit ihm auf. Es ertönten Rufe wie: »Bravo, Sandro!«, »Siehst du, das ist unser Sandro« oder »Sandro hat Talent, mehr als der Ansager letztes Jahr.«
Die Scheinwerfer, die Sandro ins Zentrum gerückt hatten, verblassten und die Bühne wurde von einem blauen Licht erfüllt. Knapp noch sah man die Hirten, die sich in den Kreis setzten und an ihren Baguettes zu knabbern begannen. Einige Schüler in weißen Leggins und Hemden sowie selbst gebastelten Schafmützen, krabbelten um die Hirten und schnupperten an den Käsestücken herum.
Zwei Mädchen hüpften mit Triangeln umher. Sie trugen rosa Ballettkostüme mit kleinen Flügeln am Rücken und verkündeten, dass bald der Oberengel komme.
Einer der Hirten bot ihnen Baguettes an.
»Vergiss nicht, die Krümel aufzuwischen. Sonst stolpert jemand drüber bei der Sterneverleihung für die Lehrer«, mahnte einer der beiden rosa Engel.
»Warum ich?«, wehrte sich der Hirte.
Spätestens hier wurde das Gelächter im Saal immer stärker.
»Scheinwerfer!«, schrie das andere Engelchen mit schriller Stimme und tatsächlich, ein kreisrundes Licht erstrahlte und ein etwas größerer Engel im silbernen Maxikleid, mit dazu passenden Maxiflügeln, trat herbei. »Ich habe meinen Text vergessen, und meiner muss ja genau sein«, waren seine Worte, worauf Jesus, der sich schon lange in die Plastikwiege geworfen hatte, mit der Hand hinter seinen Rücken fuhr und mit einem Zettel winkte. »Ich bin euer Soufflé.«
Eine Lachwelle bewegte sich durch die Reihen.
»Souffleur, du Depp!«, sagte der eine kleine Engel, der mit den Krümeln. Ich sah und spürte sogar, wie Silo neben mir kurz vor Lachen geschüttelt wurde.
»Herr von Mayßenstein!«, riefen nun die Hirten in Richtung Seitenvorhang, hinter dem sich der Produktionsleiter vorbildlich still verhalten hatte. Schließlich war es ein improvisiertes Krippenspiel, das stand sogar auf den Programmzetteln.
»Herr von Mayßenstein, soll das Jesuskind wirklich der Soulleur sein?«
Der Vorhang wölbte sich nach vorn und wurde zur Seite gedrückt. Herr von Mayßensteins Kopf erschien: »Verehrtes Publikum, dieses Spiel findet jedes Mal, wenn die Kinder auf der Bühne stehen, eine teilweise neue Form. Unter meiner Leitung wird dieses Prinzip speziell beherzigt. Ich bitte Sie alle um Nachsicht und Offenheit. Und nun, liebe Schülerinnen und Schüler, fahrt einfach fort!«
Mensch, der Mayßenstein macht es sich einfach. Das dachte wohl nicht nur ich. Aber die 1a und b hatten den Saal auf ihrer Seite, und niemand konnte sich der Dynamik ihrer Spontaneität entziehen.
»Jesus weiß alles«, sagte nun eine überzeugte Stimme aus der Plastikkrippe. »Also gut zuhören, Engel, ich spreche dir den Text mal vor ...«
»Stopp!«, riefen drei Stimmen von der andern Bühnenseite. Es waren die drei Könige alias Königinnen, welche auf dem Bühnenaufgang saßen.
»Schaut doch Maria und Josef!«
In der Tat, während das Jesuskind in der Krippe herumturnte, liefen eine tief verschleierte Maria und ein Josef in einem XXL-Hemd, welches um seinen Körper schlotterte, im Publikum herum und beäugten dieses gespannt.
»Tut doch die Scheinwerfer auf Maria und Josef!«, rief der rosa Engel, der sich auf die Beleuchtung zu konzentrieren schien. Spätestens jetzt wurde klar, dass auch der Beleuchterjob, den ein Schüler aus der Oberstufe übernommen hatte, sehr improvisiert ausgeführt wurde.
Maria bewegte sich auf einen Herrn mittleren Alters zu, der am Rand der drittvordersten Reihe saß: »Haben Sie eine Herberge für uns? Sicher nein«, beantwortete sie gleich selbst ihre Frage und wiederholte das Spiel noch zwei, drei Mal.
Josef stand relativ mundfaul daneben.
»Das nächste Mal fragst du«, wies ihn Maria zurecht.
Einzelne Eltern bogen sich vor Lachen. Aus den Schulklassen im Publikum ertönten hingegen Aufforderungen: »Wir hätten noch Platz im Internat der Faraday Promise. Besuchen Sie uns! Wir haben Gästezimmer und mehr als Schafkäse und Baguette zu bieten.«
»Ruhe!« donnerte nun Alex Berchtold, der sich erhoben hatte.
Ich hatte noch nie so viel gelacht wie an diesem Abend.
Erst als Maria und Josef auf der Bühne standen, bemerkten sie die Zeitverschiebung im Ablauf der Geschichte und klagten Richtung Jesuskind: »Du hättest hinter dem Vorhang warten sollen, bis du geboren bist, das heißt, der Vorhang hätte auf und zugehen sollen.«
»Wir wollten den Vorhang schließen, aber die Hirten haben uns gestört«, tönte es hinter dem Vorhang hervor.
In diesem Augenblick griff der große Engel beherzt in das Geschehen ein. »Nun ist Jesus da und bleibt auch da.« Silbern glänzend wandte er sich ans Publikum: »Ich bin der Einzige hier, der etwas aus der Bibel aufsagt. Jetzt habe ich es auf dem Zettel nachgelesen und weiß es wieder. Und siehe da, ich verkündige euch große Freude … fürchtet euch nicht! …«
Nun ja, der Originaltext war leicht anders, aber so herum gefiel er mir noch besser. Das Fürchtet euch nicht, begann beinahe zu strahlen.

Keine Kommentare:

[Challenge] Buchsparen by Nika 2025

Pro Buch vom SuB gebe ich 2€ in das Sparschwein. Pro Buch das neu ist gebe ich 1€ in das Sparschwein. Pro Buch, das ich testlesen darf gebe ...