Samstag, 18. Dezember 2021

[Weihnachtscountdown 2021] Tag 18 - Beitrag 5 - Sylvia Rieß




Weihnachten auf Talveymar


„Euer Majestät, ...“
Fenia hatte ihren Hofmeister niemals sprachlos erlebt. Jetzt aber stand der Kobold vor ihr, trat von einem auf den anderen Fuß und schien nach den richtigen Worten zu suchen.
„Ja, Meister Godwin. Wie kann ich Euch weiterhelfen?“
Im Stillen grinste sie in sich hinein, denn sie ahnte, was ihn so verwirrte.
„Nun.“
Pause.
„Ja?“
„Diese Liste …“
„Ja? Ist damit alles in Ordnung? Gab es Schwierigkeiten, etwas davon zu besorgen?“
„Nein, Majestät, nein. Nur … ich … ich verstehe nicht ganz. Ich meine ... zweihundert Kugeln aus rotem Bleikristall, Sterne geflochten aus Stroh, kandierte Äpfel. Dazu Baisergebäck mit Schleifen zum Aufhängen. Seidenkleider für die Dienstmädchen? Verzierte Dolche für die Küchenjungen? Ein geschnitztes Schachspiel für Meister Aswin?“
„Ja? Mir wurde gesagt, er spiele abends sehr gerne hin und wieder eine Partie Schach.“
„Das schon, aber … Ich verstehe nicht. Was hat das alles zu bedeuten?“
Jetzt lachte Fenia ein glockenhelles Lachen. Sie setzte dazu an, Godwin zu erklären, was sie vorhatte, da hörte sie auf einmal lautes Rufen und Krachen aus den Korridoren und der großen Halle. In ihren Augen blitzte es auf.
„Komm Godwin, Komm! Sie sind hier. Sie haben den Baum gebracht.“
„Baum? Was für einen Baum?“
Fenia war aber schon nicht mehr zu halten. An den Händen zog sie den Kobold mit sich und lachte noch lauter.
In der Halle angekommen, konnten sie Aswin und seine Stalljungen dabei beobachten, wie sie eine riesige Blaufichte am Kopfende auf der Thronempore mit Seilzügen aufzurichten versuchten. Die Throne waren dabei achtlos an der mittlere Wand an die Seite geschoben worden.
„Gut so“, kommentierte Llewellyn das Ganze von oben.
Er stand, mit den Flügeln surrend, etwa fünfzehn Meter über den Männern in der Luft und sicherte die fragile Spitze des Baumes. Auf sein Kommando zogen alle einmal kräftig am Seil.
Godwin sog hörbar die Luft ein. Ein bedrohliches Knacken ging durch den Stamm. Fenia reagierte sofort. Mit den Händen malte sie Zeichen in die Luft. Eine starke Brise blies allen entgegen. Fast hätten die Männer die Seile aus den Händen gleiten lassen, doch das war bereits egal. Die mächtige Fichte richtete sich ganz ohne ihr Zutun weiter auf. Mit Säulen aus Stein, die sie aus dem Boden beschwor, sicherte Fenia schlussendlich den Stamm.
Llewellyn landete neben ihr, legte den Kopf in den Nacken und sagte mit gespielter Empörung:
„Du lässt einen aber auch gar nichts selbst machen. Den Baum aufstellen ist doch Männerarbeit.“
„Stimmt. Bei uns hat mein Papa auch immer drauf bestanden. Meine Mama hat nur fleißig gemeckert, wenn er nicht gerade genug war oder eine doppelte Spitze hatte. Aber man muss sich und dem armen Baum ja nichts brechen, wenn man es auch anders machen kann“, antwortete sie fröhlich.
„Ist er dir denn wenigstens gerade genug?“ Llewellyn gab nicht auf, sie ein wenig aufzuziehen.
Fenia knuffte ihn in die Seite. Er schien damit gerechnet zu haben und sprang zwei Schritte von ihr weg. In der nächsten Sekunde hielt er in der hohlen Hand einen Schneeball, beschworen aus der eisigen Luft, die durch die offenen Flügel des großen Portals immer noch hereinströmte. Er zielte und traf sie direkt am Kopf. Ihre Krone rutschte.
Godwin riss die Augen auf und machte Anstalten, sie von weiterem ungebührlichem Benehmen abhalten zu wollen. In Fenias Fingerspitzen zuckte es allerdings schon. Eine kräftige Bö blies eine ganze Schneewehe von draußen vor ihre Füße und türmte sie unter dem Baum auf.
„Wer Wind sät ...“, kommentierte Fenia und Llewellyn versuchte noch, sich in Deckung zu bringen.
Innerhalb von Sekunden flogen die Schneebälle nicht nur zwischen ihnen hin und her. Sobald Aswin den ersten in den Nacken bekam, zeigte auch der Stallmeister keine Hemmungen mehr, sich dem wilden Toben der Majestäten anzuschließen. Selbst die Stalljungen verloren nach wenigen Minuten die Scheu, und Diener, Küchenmädchen und Hofdamen, die unwissentlich durch die große Halle kamen, mussten die Köpfe einziehen.
Nach nicht einmal fünfzehn Minuten war der Zauber allerdings vorbei. Der Schnee war durch die Wärme der Kamine geschmolzen. Zurück blieb nur eine Pfütze, in deren Mitte Fenia stand, den Saum ihres Kleides durchtränkt bis zu den Knien. Es schien sie aber nicht weiter zu stören. Mit heftigem Atem und glühenden Wangen sah sie sich nach ihrer Krone um. Die war im Laufe der Schneeballschlacht irgendwo unter die ausladenden Fichtenzweige gerutscht und ihr Haar hing jetzt offen und in nassen Strähnen auf ihre Schultern.
„Wie ein begossener Pudel“, konnte Llewellyn sich nicht zurückhalten und fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar, um es noch ein wenig mehr zu zerwühlen.
Der Stallmeister und seine Jungen lachten. Keiner von ihnen gab ein besseres Bild ab.
„Hm hm“, räusperte sich Godwin nun jedoch entschieden. „Ich muss die Majestäten doch sehr bitten.“
Er stand kerzengerade, als hoffte er, durch sein gutes Beispiel von Anstand und Würde, König und Königin wieder daran zu erinnern, was die Etikette des Hofes für schicklich befand. Weder Fenia noch Llewellyn schienen sich aber gerade etwas daraus zu machen.
„Goddy, morgen ist Weihnachten. Da muss man nicht alles so eng sehen“, erklärte Fenia immer noch bester Laune.
Sie ging hinüber zum Baum und hob den goldenen Reif mit den grünen Steinen wieder auf. Llewellyn knotete derweil die Seile los, die sie nicht mehr brauchten. Aswin nahm sie ihm ab und gab sie den Jungen. Dann wanderte der Blick des Königs nach oben zum letzten Seil in der Baumkrone.
„Oh, sieh mal“, grinste er plötzlich. „Ein Mistelzweig.“
Fenia begriff sofort, doch noch bevor sie protestieren konnte, zog er sie an sich und küsste sie. Den umstehenden Dienern klappte der Unterkiefer herunter. Der Stallmeister hingegen grinste wissend vor sich hin. Er hatte nie Zweifel an den Gerüchte um Eruis Hohe Könige gehabt.
„Dieses Weihnachten muss ja etwas ganz Besonderes sein“, gab auch Godwin es auf und zuckte resignierend mit den Schultern.
Fenia nickte. Ihr Blick gehörte nur Llewellyn, als sie antwortete:
„Ja, in der Tat.“

***

Das Rot der Blutstropfen, die auf dem Kerkerboden zu feinen Perlen gefroren, erinnerte sie an die glänzenden Kugeln, welche Llewellyn und sie an jenem Abend am ganzen Baum verteilt hatten. Dazu Ornamente aus Stroh, Zuckergebäck, Lebkuchen und kandierte Äpfel. Ein herrlich altmodischer Weihnachtsbaum, wie Fenia ihn auch von den Festen mit ihrer Familie in Erinnerung hatte.
Am Wintersonnwendabend selbst hatten Hunderte von großen und kleinen Paketen unter dem Baum gelegen; so viele, wie man sie wohl nur aus kitschigen Weihnachtsfilmen kannte. Jeder Page, jedes Dienstmädchen, jeder Geselle und jeder Meister aus ihrer Handwerkerschar, jeder Ritter und jeder Knappe, alle hatten ein Geschenk bekommen. Sogar für Godwin hatte sie heimlich etwas in Auftrag gegeben und konnte die Verblüffung und Verzückung kaum fassen, als der Kobold es mit spitzen Fingern und zusammengezogenen Augenbrauen ausgepackt hatte.
Dann aber traf sie ein Schlag. Die Erinnerung wurde in die Dunkelheit der drohenden Ohnmacht geschleudert. Ihr Geist verlor sich für den Moment. Als sie zu sich kam, schmeckte sie erneut Eisen und Kupfer in ihrem Mund. Sie spuckte und neue glänzend rote Perlen gesellten sich zu denen, die bereits am Boden lagen. Weihnachtsrot.
„Du sollst nicht an ihn denken“, bohrte sich der scharfe Befehl jener Stimme in ihrem Kopf, die sie mehr als jede andere zu vergessen versuchte. Überhaupt versuchte sie zu vergessen. Wo sie war und mit wem. Was ER von ihr wollte und die Tatsache, dass sie vermutlich irgendwann nicht mehr stark genug war, es IHM zu verwehren.
Aber noch nicht. Noch würde sie fliehen, an den einzigen Ort, der ihr geblieben war. Sie rief sich die Erinnerung von Llewellyns strahlendem Lächeln ins Gedächtnis zurück.

***

„Ich habe natürlich auch etwas für dich“, flüsterte er ihr zu, als gerade jeder um sie herum mit dem Auspacken seines eigenen Geschenkes, dem Bewundern und Ausprobieren beschäftigt war.
„Ach ja? Was denn?“, fragte sie neugierig zurück und erwartete fast schon, dass er eine Schachtel unter seinem Hemd hervorziehen würde. Sie musste sich eingestehen, dass es sie ein wenig beschämt hätte, denn tatsächlich war Lew der Einzige, für den ihr kein angemessenes Geschenk eingefallen war. Keines, das wertvoll genug war, um ihm zu zeigen, was er ihr bedeutete, und sie hätte ihm nichts schenken wollen, was weniger wert war.
Er allerdings hielt kein buntes Paket in der Hand. Er lehnte sich nur leise zu ihr und sagte: „Es ist unsichtbar. Du kannst es nicht umtauschen, nicht zurückgeben und es gehört ganz allein dir.“

***

„Schluss!“, fuhr die Stimme des Schattens dazwischen.
Ein neuer Schlag traf sie. Mehr Blut, mehr Schwärze. Etwas an all dem hier wirkte so falsch. Entweder war dieses Wesen nicht real oder Weihnachten war nicht real. Aber wie konnte beides auf einmal existieren?
Der Schmerz hatte ihren Geist weit aus ihrem Körper herausgeworfen. Wie von fern konnte sie zusehen, wie sie da hing in Ketten an der Wand, vor ihr die unsäglich menschliche Gestalt des Dämons, dem sie in die Hände gefallen war. Sein silberblondes Haar, sein wunderschönes Gesicht mit hohen Wangenknochen, einer breiten Stirn und betörend eisblauen Augen … wie ein Weihnachtsengel.
„Gib endlich auf“, forderte er von ihr. „Lass los und erkenne, worin die wahre Macht liegt.“
Ihr Körper schüttelte den Kopf. Sie spürte, dass sie zusammenzuckte in Erwartung von noch mehr Schlägen. Doch stattdessen war sein Geist in ihrem gefangen. Die rotglühenden Augen seiner wahren Seele durchsuchten ihre Erinnerung an das einzige glückliche Weihnachten, das sie auf Talveymar je gefeiert hatte. Der einzige Winter, der Lew und ihr geblieben war. Sie spürte seine brennenden Blicke auf ihrer beider Hände, die sich heimlich ineinander verschlungen hatten.
Sie beide, erwählt auf dem Pfad des blauen Drachen, zwei Hohe Könige. Das hatte die magische Welt noch nie zuvor gesehen. Dass sie nun zusammen waren – wieder - hatten sie nicht offiziell verkünden wollen. Fenia war noch nicht bereit gewesen zu heiraten. Sie hatte warten wollen und Lew wusste und respektierte ihren Wunsch.
„Es hätte auch nichts geändert“, fauchte der Schatten sie an, rüttelte an ihrer Schulter, zwang ihren entrückten Geist zurück in ihren Körper. „Verstehst du nicht den Trug hinter dieser Illusion? Glaubst du wirklich, die Menschen feiern dieses Fest noch aus Glauben, aus Güte, aus Liebe?“
Die Worte taten weh. Ein Teil von ihr musste zustimmen. Es war kein Wunder, dass ER so mächtig geworden war. ER, den die Menschen nährten nicht nur mit Hass und Krieg und Mord, sondern mit jedem gedankenlosen Handeln, mit Gleichgültigkeit und mit Habgier, und waren das nicht viel öfter die Beweggründe, sich prächtig geschmückte Bäume ins Wohnzimmer zu stellen? Immer mehr und immer mehr zu wollen für sich, ohne Gedanken an die Konsequenzen für andere?
Nein, so gesehen war Weihnachten bei den Menschen tatsächlich nur noch eine Illusion. Doch nicht dieses eine, nicht hier in Erui. Nicht für sie.
Sie schloss die Augen, verleugnete die Realität noch ein wenig länger und ließ ihren Geist zurück entschwinden in jenen Traum von einer friedlichen Welt, den sie für wenige kalte Monate in Llewellyns warmen Armen hatten träumen dürfen.

***

„Ich schwöre hiermit feierlich, diese Welt zu schützen und ihr zu dienen“, flüsterte Llewellyn die Worte jenes heiligen Eids in ihr Ohr, den sie beide hier in dieser Halle schon geschworen hatten, „seine Feinde zu vernichten und seine Könige zu achten, wie sie mich achten. Mein Schwert, mein Blut, mein Leben für Erui.“
Die letzten Worte flüsterte sie mit, dann drehte er sie sanft zu sich und sah sie lange an, bevor er mit den Worten schloss:
„Mein Herz aber nur für Eruis Königin. Das, mein Stern, will ich dir schenken. Für immer.“

***

„Umtausch ausgeschlossen“, murmelte sie zwischen einem weiteren Schwall Blut, der über ihre Lippen kam. In den roten Tropfen auf dem Boden wurde es ihr plötzlich klar: Solange noch Augenblicke wie jener eine Weihnachtsabend in Erui geschehen konnten, waren die Herzen der Menschen nicht vollends verloren. Das allein reichte, um die Hoffnung auch in ihr am Leben zu halten.


Aus „Vergessene Tage eines Königs“ - einer Kurzgeschichtensammlung rund um die High Fantasy Trilogie „Der Stern von Erui“.

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