Dienstag, 21. Dezember 2021

[Weihnachtscountdown 2021] Tag 21 - Beitrag 13 - Laura Misellie



Weihnachten in der Kurzgeschichte zu „Hailey Blake“ Band 3 – Luk & Caitlin



Der Schnee knackt bei jedem Schritt unter unseren Füßen und rieselt gleichzeitig beständig auf uns herab. Er lässt die sonst dunkelgrauen Straßen der Stadt strahlend hell erscheinen. Selbst der kleine Park auf der gegenüberliegenden Seite sieht aus wie ein Winterwunderland, mit den Lichterketten, die in das Zaungitter geflochten worden sind.
Nach den Erlebnissen der letzten Zeit tut ein wenig Besinnung gut. Es ist wichtig, solche Kleinigkeiten wertzuschätzen. Denn man weiß nicht, wie lange man das noch kann. Einige der Menschen, die mir sehr nahestehen, hätten das um ein Haar am eigenen Leib gespürt. Der Gips am Arm meiner Verlobten erinnert mich seither täglich daran.
Es ist spät, die Geschäfte schließen bald und Menschen hetzen an uns vorbei, um die letzten Besorgungen für Heiligabend zu tätigen. Caitlin und ich hingegen sind entspannt und bewegen uns nur langsam vorwärts. Mein Blick streift immer wieder die Dekorationen an den Türen und in den Fenstern der Häuser, an denen wir vorbeikommen. Mit einem zufriedenen Lächeln erfreue ich mich am diesjährigen Weihnachtsflair.
Die Feiertage mit unseren Freunden zu verbringen, ist eine tolle Aussicht. Bis zum letzten Jahr haben mein Bruder und ich sie stets bei unserem Vater und seiner Frau weit oben im Norden verbracht. Dort fällt meist so viel Schnee, dass man eine Woche nicht das Haus verlassen kann. Und dort eingepfercht zu sein, mit meinem jagdwütigen Vater und einem Dutzend ausgestopfter Tiere an den Wänden, hat mich nie sonderlich begeistert. Vor allem bin ich nicht scharf darauf, Weihnachten mit meiner Stiefmutter zu verbringen. Vermutlich bin ich zu alt gewesen, um eine richtige Bindung zu ihr aufzubauen. Unsere Gespräche sind rein oberflächlicher Natur und wir sind uns nie besonders nahegekommen.
Dass ich die Feiertage also mit meinen Freunden verbringen kann, stimmt mich um ein Vielfaches glücklicher. Nicht zuletzt, weil vor allem Caitlin seit dem letzten Jahr ein Teil meines Lebens ist. Sie ist der Hauptgrund für mich, mich erst zum zweiten Mal in meinem Leben wirklich auf Weihnachten zu freuen. Mit ihr durch die Straßen zu schlendern, während ich ihre Hand halte, ist ein schönes Gefühl. Und das mag einiges heißen, wo ich mir doch gerade den Arsch abfriere, obwohl ich gar nicht unbedingt ein Freund dieser Jahreszeit und von Weihnachten generell bin. Caitlin hingegen liebt es und geht darin auf, als wäre es der schönste Teil des Jahres. Schon bei unserem ersten gemeinsamen Fest, ist mir das gleich aufgefallen. Vergangenes Weihnachten ist sie durch Kais Haus getanzt und hat lautstark Lieder geschmettert, die ihren Cousin nervten, aber mich im selben Moment verzauberten.
Meine gute Laune an diesem Abend wird nicht mal davon geschmälert, dass sich der eiskalte Wind durch jede Ritze meiner Jacke frisst. Auch nicht durch den Schnee, der sich mit Nachdruck durch meine sommerlichen Treter kämpft. Dass Caitlin und ich zueinandergefunden haben, lässt diese Umstände gar nicht mehr so wild für mich erscheinen. Minute für Minute fällt mir weniger auf, dass ich kein Wintermensch bin. Immerhin hat mich diese tolle Frau vor einigen Tagen mehr beschenkt als jeder unserer Freunde es am morgigen Weihnachtsabend vermag.
Es hätte für mich sonst sicherlich keinen Grund gegeben, einen Tag vor Heiligabend in die Stadt zu fahren, anstatt in meinem eigenen Café einen Happen zu essen und einen Punsch zu trinken. Aber nach dem, was passiert ist, scheint es nicht zu schaden, unseren Freunden mal etwas Raum zu lassen. Und uns selbst ein wenig Zeit zu zweit einzuräumen.
»Mit deinem Antrag hast du mich überrascht«, sagt Caitlin in diesem Moment.
»Was denkst du, wie überrascht ich war, dass du ihn angenommen hast«, erwidere ich und lache.
Ja, auch dieser Fakt grenzt wohl an ein Wunder. Ich bin also wirklich der am reichsten beschenkte Mann auf der Welt, obwohl die Bescherung an Heiligabend noch aussteht. Ich weiß nicht, warum Caitlin mich mit ihrem Ja zu diesem glücklichen Menschen gemacht hat. Immerhin sind wir erst wenige Monate zusammen. Doch als ich sie im Krankenhaus auf dieser Liege habe sitzen sehen, mit ihrem gebrochenen Arm und der Angst in den Augen, hat es mich übermannt. Ich habe sie gefragt, ob sie mich heiraten möchte.
»In meiner Familie ist es üblich, dass die Pläne für das zukünftige Leben von anderen geschmiedet werden«, sagt sie schließlich. »Meine Mutter hatte sich alles bereits genau überlegt. Ich sollte mir keine Gedanken um den zweiten Grad machen, um einen höheren Schulabschluss zu erlangen. Und schon gar nicht um ein Studium. Stattdessen sollte ich mich auf eine gute Partie zum Heiraten konzentrieren. Jedes Jahr trieb sie Dutzende Anwärter für die Rolle des Ehemanns auf. Und jeder von ihnen ist unausstehlicher als sein Vorgänger gewesen.« Sie lacht leise. »Mein ganzes Leben durfte ich keine eigenen Entscheidungen treffen. Mir wurde gesagt, wo ich hingehen, was ich anziehen, was ich sagen und wie ich mich verhalten soll. Meine Mutter wird wohl mehr als überrascht sein, wenn ich ihr von dir erzähle.«
Für einen kurzen Augenblick gerät Caitlin ins Schlittern. Beinahe fällt sie und ich schaffe es gerade noch rechtzeitig, sie zu halten. Sie lacht amüsiert, obwohl der Sturz sicherlich wehgetan hätte.
Ich bin gespannt darauf, ihre Familie kennenzulernen. Es ist keine Vorfreude, die ich vermutlich verspüren sollte. Bisher habe ich den Eindruck gewonnen, dass die McKenzies eine rein erfolgsfixierte Familie sind. Die Bande, wenn es sie denn überhaupt in irgendeiner Form bei dieser Familie gibt, scheinen Caitlins Selbstwertgefühl nicht gefördert zu haben. Sie ist sicherlich nicht grundlos von einem Tag auf den anderen in unser aller Leben geplatzt, ohne seither viele Worte über ihre Eltern verloren zu haben. Und wenn es zum Thema geworden ist, hat die sonst so toughe Frau schwach und traurig gewirkt. Normalerweise überstrahlt sie alles Negative und wirkt wie der selbstsicherste Mensch, den ich kenne.
»Ich kann kaum glauben, dass ich mein Glück gefunden habe«, sagt sie und atmet voller Erleichterung aus. Sie schaut mich an und sich sehe dieses glückliche Funkeln in ihren Augen. Sie greift nach meiner Hand und schmiegt sich an meinen Arm. »Ich habe es schon für unmöglich gehalten, dass mein Cousin, das schwarze Schaf der Familie mit dem Aufreißer-Ruf, tatsächlich jemanden gefunden hat, bei dem er sich zu Hause fühlt. Aber dass ich das auch schaffe, indem ich mich in ein neues Leben flüchte, das erstaunt mich noch immer. Wer hätte gedacht, dass es ausreicht, den McKenzies den Rücken zu kehren? Sich von ihnen nicht länger die Luft zum Atmen abschnüren zu lassen?« Der Griff um meine Hand festigt sich. Es fühlt sich an, als wollte sie verhindern, dass ich ihr entgleite. Als gäbe es auch nur den Hauch einer Chance, mich wieder zu verlieren. »Du bist so völlig anders als die Menschen aus der Welt, der ich entflohen bin. So bodenständig und glücklich mit kleinen Dingen. Deine Leidenschaft für das Café, die enge Bindung zu deinem Bruder … Insgeheim habe ich mir gleich gewünscht, irgendwie ein Teil davon sein zu können.« Ich erwidere ihren festen Händedruck, um ihr direkt zu zeigen, dass sie sich dieser Zugehörigkeit sicher sein kann. »Du hast es so schnell geschafft, mich für dich einzunehmen.«
Caitlin wendet mir erneut das Gesicht zu und ich verliere mich augenblicklich in ihren Augen. Was bin ich doch für ein glücklicher Vollidiot, der es geschafft hat, mit eigentlich nichts diese wundervolle Frau für mich gewinnen zu können.
Erst ein lautes Quietschen reißt mich aus meiner Faszination. Ich höre Metall, das auf Metall trifft, dicht gefolgt von dem Geräusch berstenden Glases. Sofort wende ich mich der Quelle des Lärms zu und sehe die zwei Wagen, die offenbar kollidiert sind. Die Motorhauben sind ein wenig aufgesprungen, der vordere Teil beider Autos ist massiv eingequetscht. Ein kurzer Blick ins Innere der Fahrerräume zeigt aufgesprungene Airbags.
»Ruf den Notarzt!«, rufe ich Caitlin zu, als ich bereits auf den ersten Wagen zustürme.
Mein Herz rast, das Pochen dringt mir bis in die Ohren. Der rote Wagen zu meiner Linken ist schneller erreichbar. Dort angekommen, reiße ich die Beifahrertür auf. Die junge Frau auf dem Sitz sieht mich an und wirkt orientierungslos auf mich, scheint aber außer der kleinen Platzwunde an der Stirn keine äußeren Verletzungen zu haben. Der junge Mann am Steuer scheint nicht ganz so viel Glück gehabt zu haben. Aus seiner Nase läuft Blut, außerdem sieht es schwer danach aus, dass sie gebrochen ist. Vermutlich eine Folge des Zusammenstoßes mit dem Airbag.
»Der Notarzt kommt«, versichere ich.
Die Frau schafft es offenbar, sich zu sammeln. Sie nickt und ihr Blick richtet sich – durch die Reste ihrer Windschutzscheibe - starr auf das andere Fahrzeug, als würde sie in diesem Moment begreifen, was gerade passiert ist.
»Luk!« Caitlins viel zu hohe Stimme lässt mich aufhorchen.
Sie steht neben dem anderen Fahrzeug, wie erstarrt und nicht handlungsfähig. Ihre Augen sind starr auf die Personen im Inneren gerichtet.
Mir wird sofort klar, dass sie unter Schock steht. Der Anblick muss sie an den Unfall erinnern, der noch keine Woche zurückliegt. Sie selbst ist dabei verletzt worden und hat einen gebrochenen Arm davongetragen. Ray, einer unserer engsten Freunde, hätte die Kollision mit dem Baum beinahe sein Leben gekostet. Er hat noch einen weiten Weg vor sich, wenngleich wir endlich wissen, dass er vollständig genesen wird. Seine Freundin Enya weicht ihm nicht mehr von der Pelle und zeigt eine sanftmütige Seite, die ich ihr bisher gar nicht zugetraut habe. Kai fühlt sich noch immer grauenhaft, das sieht man ihm an. Er hat am Steuer gesessen und versucht, dem Hirsch auszuweichen. Deshalb gibt er sich die Schuld an dem Unfall, der beinahe das Leben seines besten Freundes gekostet hätte. Aber er ist schon immer der Typ gewesen, der die Dinge mit sich selbst ausmacht. Von Caitlin und mir wollte er bisher keine Hilfe, keinen Zuspruch. Wenn überhaupt jemand es schafft, aktuell zu ihm durchzudringen, dann ist das Hailey. Hoffentlich wird sie ihm klarmachen können, dass nichts von dem Geschehenen seine Schuld gewesen ist. Und hoffentlich wird diese Sache hier ähnlich glücklich ausgehen.
Als ich allerdings neben Caitlin stehe und in das Wageninnere schaue, schwindet diese Hoffnung. Der ältere Mann am Steuer rührt sich nicht, sein Kopf ist zur Seite gefallen und er blutet aus einer Wunde an der Stirn.
»Zur Seite, Schatz.« Als ich Caitlin an der Schulter berühre, zuckt sie zusammen und starrt mich mit aufgerissenen Augen an.
»So schnell …«, murmelt sie bloß.
Zu gerne würde ich sie in den Arm nehmen, mich um sie kümmern, ihr beistehen. Sie braucht mich, weil sie vermutlich jede Sekunde ihres eigenen Unfalls gerade noch einmal erlebt. Aber zuerst muss ich wissen, ob ich dem Mann im Auto irgendwie helfen kann.
Ich spreche ihn an, will seine Aufmerksamkeit erlangen, ihn irgendwie zur Besinnung bringen. Doch was ich auch versuche, er reagiert nicht. Meine Finger gleiten schließlich an sein Handgelenk, um den Puls zu erfühlen. Sie sind so steif vor Kälte, dass ich keinen ausmachen kann.
Gott, keine Ahnung, was ich machen soll. In meinem Kopf läuft ein Film. Was, wenn das vor mir kein Fremder wäre, sondern Caitlin? Wenn ich sie, Kai und Ray nach ihrem Unfall so vorgefunden hätte? Es zerreißt mir das Herz. Dasselbe Gefühl habe ich verspürt, als ich zu ihnen ins Krankenhaus gestürmt bin.
Das sorgenvolle Gemurmel anderer Passanten wird durch eine sich nähernde Sirene verschluckt. Endlich, der Krankenwagen kommt. Ich fühle mich total aufgeschmissen, weil ich dem armen Mann nicht helfen kann.
Als die Rettungssanitäter nach einer gefühlten Ewigkeit endlich neben mir auftauchen, macht sich Erleichterung in mir breit. Ich berichte ihnen das Wenige, das ich weiß, und ziehe Caitlin schließlich von der Straße auf den Gehweg zurück, um sie ihre Arbeit machen zu lassen.
So ein Unfall, einen Tag vor Heiligabend. Diesen armen Menschen ist der Schnee zum Verhängnis geworden. Wie gebannt verharre ich auf der Bordsteinkante, den Blick stur auf die Sanitäter gerichtet, die den alten Mann versorgen. Als endlich einer von ihnen ruft, er hätte einen Puls, spüre ich, wie meine innere Anspannung schlagartig nachlässt.
Er lebt. Sie alle. Meine Freunde. Cailtin. Um ein Haar hätten wir Ray verloren. Zu meinem Entsetzen auf dieselbe Art, auf die er erst vor wenigen Jahren zur Waise geworden ist. Vielleicht klinge ich kitschig, aber in meinen Gedanken nenne ich sein Überleben, das von Kai und Caitlin und auch das dieser mir fremden Menschen, ein Weihnachtswunder.
Letzte Woche hat es mich dazu verleitet, zu hoffen, dass mir mein Eigenes zuteilwird. Ich habe Caitlin diese eine besondere Frage gestellt und sie hat mir mein Wunder geschenkt, indem sie einwilligte, meine Frau zu werden. Ich habe die Gewissheit erhalten, dass alles wieder gut werden würde. Und daran glaube ich auch jetzt.
Caitlin greift nach meiner Hand. »Luk … Als das Auto von der Straße abkam, dachte ich, dass das mit uns vorbei wäre, bevor es richtig angefangen hat. Ich dachte …« Sie bricht den Satz ab, ist noch immer völlig durch den Wind.
Ich ziehe sie an mich und schließe sie so fest in die Arme, wie es ihr Arm zulässt. »Es wird alles gut«, sage ich. »Knochen heilen, Ray wird wieder ganz gesund. Es ist alles so gut ausgegangen, wie es nur konnte.«
»Das Geräusch der quietschenden Reifen … Ich …«
Ich nehme ihr Gesicht in beide Hände und lächele sie an. »Mach dir keine Gedanken. Du hast diesen Unfall noch nicht überwunden.«
»Aber ich konnte nicht helfen.«
»Nach dem, was du erlebt hast, würde dich keiner dafür kritisieren. Es geht uns gut, Caitlin. Dir, Kai, Ray und auch diesen Menschen dort.«
Ich erkenne den Anflug eines Lächelns in ihrem Gesicht. »Ich will doch nur glücklich sein«, sagt sie.
Sie zieht mich mit sich. Weg von dem Trubel, dem Drama und all den gaffenden Menschen, die schaulustig die Sanitäter beobachten.
»Als das mit uns anfing, hatte ich Angst, weil ich mir nicht sicher war, ob jemand so Nettes wie du wirklich bereit ist, sich auf mich und mein Gepäck einzulassen«, fährt sie mit wehmütigem Unterton fort. »Wir kommen aus völlig unterschiedlichen Welten, und ich fürchte mich schrecklich davor, dir meine zu zeigen, weil du es dir dann anders überlegen könntest. Die Männer, die meine Mutter sich für mich vorstellt, passen so perfekt in die Welt eines McKenzie, aber nie zu mir. Jetzt habe ich einen Verlobten, der alles ist, was ich mir je erträumen konnte, doch er passt so gar nicht zu der Vorstellung meiner Mutter. Aber bei diesem Unfall dachte ich für den Bruchteil einer Sekunde, ich würde dich verlieren. Das Gefühl … Es war so unerträglich. Und als du mich am selben Abend gefragt hast, ob ich dich heiraten will … Ich bin mir noch nie in meinem Leben bei etwas so sicher gewesen.«
Diese Worte von ihr zu hören, lösen ein Kribbeln in meinem Bauch aus wie am ersten Tag, als ich sie traf. »Ich bin ein charmantes Kerlchen und werde deine Mutter schon irgendwie für mich einnehmen«, sage ich.
Caitlin lächelt. »Der Weg wird noch steinig werden. Ich will nur, dass dir das klar ist. Und ich muss dich diesen Weg vor unserer Hochzeit gehen lassen, damit du notfalls in der Lage bist, zu tun, was ich getan habe.«
»Flüchten?«
»Glaub mir, es wird den Punkt geben, an dem du es dir wünscht.« Dieser Sache scheint Caitlin sich sehr sicher zu sein. »Es ist nicht nur meine Mutter. Sie alle sind das Problem. Beinahe jeder verdammte Mensch, der sich zu den McKenzies zählen kann. Und meine Mutter … Na ja, im Vergleich zu meinem beinahe sanftmütigen Vater wirkt sie einfach nur bösartig. Ich weiß, dass sie mich liebt, aber sie ist eine McKenzie durch und durch. Die haben alle so ihre Schwierigkeiten, Gefühle zu zeigen.«
»So wie Kai.«
»Sie sind schwierige Menschen. Meine Mutter, Kais Vater, sein Bruder und diverse andere Verwandte. Die einfühlsame Frau, die ich gelegentlich mal zu sehen bekomme, wirst du nicht kennenlernen, verstehst du? Sie wird dich niemals in ihr Herz lassen. Ganz genau wie Kai, der auch nur sehr ausgewählte Menschen an sich heranlässt.«
»Wenn die alle so schlimm sind, was ist denn dann bei dir und Kai schiefgelaufen? Er hat ja durchaus seine guten Momente, und du bist der wohl am wenigsten kaltherzigste Mensch, den ich kenne«, bemerke ich.
»Wir hatten wohl beide das Glück, auch ein paar gute Gene abzubekommen«, erwidert Caitlin grinsend. »Tante Ana, Kais Mutter, sie war … wunderbar. So gutherzig, offen und charmant. Und auch mein Vater … Keine Ahnung, warum sie je bereit gewesen sind, in diese Familie einzuheiraten.«
»Ich bin es doch jetzt auch«, werfe ich ein.
»Und vermutlich bist du ebenso verrückt wie die beiden.«
»Verrückt nach dir, auf jeden Fall«, erwidere ich mit einem Grinsen.
Sie hält mich zurück, bevor wir die nächste Straße passieren. Auf der Ecke liegt ein Pub, das The Spell. Es ist ein dunkles Gebäude, das normalerweise von dem Schwarz der Nacht verschluckt werden würde. Doch nicht heute Abend. Die Lettern des Namens werden in warmes Licht getaucht von weihnachtlichen Girlanden mit Lichterketten, die gleich darüber hängen und ebenso den Eingang einrahmen. Auch die Laternen, je links und rechts eine davon, spenden dem Gebäude ein sanftes Licht und lassen es von außen sehr harmonisch wirken.
»Luk …«, sagt Caitlin zögernd. »Liebst du mich?«
Für einen Moment überrascht mich diese Frage. Dann beschließe ich, das ernste Thema ein für alle Mal beiseitezuschieben. »Nein, eigentlich habe ich dich nur aus Langweile gefragt, ob du den Rest deines Lebens mit mir verbringen möchtest«, ziehe ich sie auf.
In ihren Augen sehe ich, dass sie den Spruch nicht so witzig fand, wie er gemeint gewesen ist. Offenbar muss sie es hören, braucht die Bestätigung, dass ich bei ihr bleibe. Doch bevor ich dazu komme, läuft sie bereits wieder los.
Ich bin ihr dicht auf den Fersen. Erst als wir den Pub betreten, gelingt es mir, sie einzuholen und an mich zu ziehen.
Wir werden von warmer, beinahe stickiger Luft und dem Geruch von Bier und Punsch eingenommen, doch sie sieht mich bloß an und scheint alles andere auszublenden.
»Ich liebe dich«, sage ich deutlich aber gerade so laut, dass ich den Trubel übertöne, der uns augenblicklich verschluckt. »Mir ist egal, wie verkorkst deine Familie ist. Du bist Grund genug für mich, jeden von ihnen in Kauf zu nehmen. Und ich werde es mir nicht mehr anders überlegen. Dir den Antrag zu machen, war ein spontaner Gedanke, denn ich bin kein Mensch, der gerne viele Pläne macht.« Ich schließe sie fest in meine Arme, bestärkt von ihrem freudigen Lächeln. »Als du da in diesem Krankenzimmer vor mir gesessen hast, den Arm gebrochen wegen eines Unfalls, bei dem du ebenso gut hättest sterben können … Ich wusste, dass du die Eine für mich bist und deshalb habe ich dich gefragt, ob du mich heiratest. Dafür braucht es keinen Plan, keine jahrelange Beziehung. Denn es gibt keine Garantie dafür, dass wir für immer glücklich sein werden. Doch, Caitlin, sieh mich an. Ich weiß, dass wir es schaffen werden, weil das Schicksal uns zusammengeführt hat. Du bist in mein Leben gestolpert und hast mich verzaubert. Mein Bruder liebt dich. Du bist der Grund dafür, dass Kai und Hailey sich angenähert haben, denn niemand sonst hat diesen brummigen Mistkerl so gut im Griff wie du. Du machst mit deiner Anwesenheit so viele Menschen glücklich. Ich verspreche dir, dass du bei mir niemals einen Grund haben wirst, dich nicht auch so zu fühlen.« Keine Ahnung, wie ich ihr begreiflich machen soll, dass sie bei mir der Mensch sein kann, der sie sein möchte. Ich hole also tief Luft und spreche alles aus, was mir in diesem Moment durch den Kopf schießt. »Du kommst aus einem lieblosen Leben, mit strengen Regeln und einer Mutter, die anscheinend nicht mal in der Lage ist, irgendjemandem zu zeigen, was er ihr bedeutet. So ein Leben wirst du an meiner Seite nicht mehr führen müssen, hörst du? Bei mir hast du ein Zuhause. Du kannst dich geborgen fühlen, weil ich immer für dich sorgen werde, welche Entscheidungen du auch triffst. Mach deinen zweiten Grad zu Ende, wenn es das ist, was du willst. Du möchtest danach studieren? Ich ermögliche dir diesen Traum.« Ich grinse. »Solange ich dir um Gottes Willen nicht bei den Hausaufgaben helfen muss«, füge ich hinzu. »Wenn du dir etwas erarbeiten möchtest, werde ich an deiner Seite sein. Solltest du alles schmeißen und einfach jeden Tag mit mir hinter der Theke stehen wollen, spielt das auch keine Rolle für mich. Machen wir einfach keine Pläne mehr. Hören wir nur auf unser Bauchgefühl und tun, was wir möchten. Mir ist nur wichtig, dass wir es zusammen machen.«
Caitlin lächelt mich betreten an. Sie schämt sich dafür, eine McKenzie zu sein. Und nur weil ihre Familie nicht liebenswert sein soll, ist sie automatisch davon ausgegangen, sie sei es ebenfalls nicht. »Ich höre lieber auf mein Herz als auf meinen Bauch«, sagt sie schließlich.
»Und was sagt es dir?«
»Dass ich dich wohl für immer lieben werde, wenn du all diese tollen Dinge sagst.« Sie wendet den Blick ab, als würde sie sich mit dieser Aussage unwohl fühlen. Vermutlich fällt es ihr schwer, ihre Gefühle so klar zum Ausdruck zu bringen. Na, wo habe ich das schon mal erlebt? Sie und Kai scheinen sich ähnlicher zu sein, als mir bisher bewusst gewesen ist.
Sie sieht sich um und ich tue es ihr gleich.
Das The Spell wirkt auf den ersten Blick von innen ebenso charmant und überzeugend, wie es von außen bereits den Anschein gemacht hat. Unzählige Menschen haben sich hier an diesem verschneiten Vorweihnachtsabend eingefunden. Bekannte, Freunde, Familien. Doch keiner von ihnen wirkt nur ansatzweise so zufrieden, wie ich mich fühle. Denn vermutlich bin ich der glücklichste Mensch der Welt, weil diese wunderschöne Frau vor mir mich tatsächlich erwählt hat.
»Sieh mal«, sagt Caitlin im selben Augenblick und deutet mit dem Finger auf etwas über unseren Köpfen. »Ein Mistelzweig.«
Den braucht es sicher nicht, doch ich verstehe ihren Wink. Sie hat mir ihr Innerstes geöffnet, mir ihre schwächste Seite offenbart. Nichts kann mich davon abhalten, ihr zu zeigen, wie sehr ich sie liebe. Und so beuge ich mich zu ihr und gebe ihr diesen einen Kuss.
Pläne macht man mit dem Kopf, doch die wahren Entscheidungen trifft man mit dem Herzen. Manchmal muss man das eine über das andere stellen, um glücklich zu werden. Es macht Momente wie diesen aus, bringt Augen zum Strahlen, den Puls zum Rasen und lässt einen mit jeder Faser des Körpers pures Glück empfinden.
Herz über Kopf – so trifft man die richtige Wahl.

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