Die Weihnacht retten
Er riss die Augen auf. Nein, alles wie immer. Die Pritschen standen exakt ausgerichtet in Reih und Glied. Rund zweihundert davon waren im Sklavenschuppen untergebracht, das wusste Moro. Wenn er den Kopf vorsichtig hob, konnte er viele davon in der Überwachungsbeleuchtung deutlich erkennen. Seine Leidensgenossen schliefen. Die Aufseher saßen vorschriftsmäßig auf ihren erhöhten Podesten und ließen von Zeit zu Zeit gelangweilt das Licht der kleinen Suchscheinwerfer durch den Raum wandern. Wie jede Nacht seit fast zwei Jahren. Dennoch ließ dieses flaue Gefühl im Magen nicht nach. Irgendetwas hatte Moro geweckt. Er hob die Hand zum Gesicht, wollte sich die Augen reiben – und erstarrte. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Er war doch nach Recht und Gesetz am Abend zuvor bis zur Unbeweglichkeit an seine Liegestatt gefesselt worden, weil er bei der Essensausgabe einen anderen Sklaven angerempelt hatte. Was würde geschehen, wenn die Aufseher am Morgen entdeckten, dass seine Hand frei war? Schon bei dem Gedanke daran stockte ihm den Atem.„Du lebst ja noch!“Die spöttische Stimme hinter seinem Ohr ließ in zusammenzucken. Jemand stand hinter ihm, beobachtete ihn. Sofort schloss er die Augen bis auf einen schmalen Spalt. Einem wie ihm war es nicht erlaubt, den Blick offen auf seine Umgebung zu richten.„Bist du jetzt wach? Können wir endlich gehen?“Moros Angst steigerte sich zur Panik. Gehen? Wohin? War das ein Befehl? Aber musste er dann dieser Stimme gehorchen oder den Regeln seines Besitzers, die es ihm untersagten, sich nachts ohne Erlaubnis der Aufseher auch nur aufzusetzen?„Steh auf!“Der Ton wurde eindeutig schärfer.„Bitte, vergeben Sie mir, ich kann nicht, ich bin …“, krächzte er kaum hörbar mit staubtrockener Kehle.… angebunden?“ Das vernehmliche Lachen des Mannes hinter ihm ließ einen Kälteschauer über Moros Rücken laufen. Seltsam, dass noch kein Aufseher den Lichtkegel auf sie beide gerichtet hielt.„Du stehst sofort auf. Verstanden?“Das war eindeutig, Moro konnte sich kein Zögern mehr leisten. „Ja, ...“. Verflixt! Der nächste Stolperstein! Hatte er den Sprecher mit ‚Master‘ oder sogar mit ‚Herr‘ anzusprechen? Die Gedanken rasten. Nein, sein Gebieter war es nicht, dessen Stimme kannte er, und ein anderer aus einer der beiden höchsten Kasten würde sich wohl schwerlich nachts in diesem Sklavenstall aufhalten.„Ja, Master“, fügte er daher hastig hinzu und spannte die Muskeln an. Er erwartete, von den Gurten zurückgehalten zu werden, und so dem Fremden deutlich machen zu können, dass er unbedingt gehorsam sein wollte, es aber doch nicht konnte.Aber nichts dergleichen geschah. Leicht wie eine Feder erhob sich Moro von der Pritsche. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, als er zurücksah. Dort lag sein Körper, noch immer angeschnallt auf der schmalen Liege. Durch nichts war er auf diesen Schock vorbereitet gewesen. Aber man ließ ihm keine Zeit, damit fertigzuwerden. Augenblicklich erhielt er den nächsten Befehl.„Komm. Raus hier. Und dreh dich ja nicht zu mir um.“Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, zu keinem anderen Gedanken mehr fähig, als dass er zweifellos tot war. Seine leblose Hülle würde wie die so vieler anderer an einer abgelegenen Stelle des riesigen Grundstückes formlos verscharrt werden. Nun, damit hatte er rechnen müssen, seit dem Tag, an dem er versklavt wurde. Doch die Ungewissheit, wohin ihn sein strenger Führer bringen würde, machte ihm Angst.Schon nach wenigen Sekunden versank die Unterkunft in einem grauen Nebel. Als dieser sich lichtete, blickte Moro in ein gemütlich eingerichtetes Zimmer. Ein offener Kamin spendete wohlige Wärme, Kerzen und ein strahlend leuchtender Weihnachtsbaum erhellten den Raum. Fast die gesamte freie Fläche wurde von einem großen Tisch eingenommen, um den etliche Erwachsene und Kinder mit glänzenden Augen saßen. Der Duft der aufgetischten Mahlzeit wetteiferte mit dem Geruch von Bienenwachs und Tannennadeln.Mit offenem Mund war Moro mitten darin. Niemals hatte er derartiges gesehen und doch fühlte er sich vom ersten Moment an, als sei er zuhause angekommen. Durchdrungen von Freude fragte er schließlich flüsternd: „Was ist das?“„Dies ist die Weihnacht, die deine Vorfahren vor ein paar hundert Jahren feierten. So ähnlich war es auch für dich vorgesehen, aber … Hey, hörst du überhaupt zu? Na gut, genieße es ruhig noch eine Weile.“Das tat Moro. Mit allen Sinnen nahm er auf, was ihm geboten wurde. Leise lachend sah er zu, wie das bunte Papier der vielen Päckchen unter dem Baum aufgerissen wurde und die Menschen einander aufgeregt zeigten, was für sie dort hingelegt worden war. Endlich kehrte wieder etwas mehr Ruhe ein. Der alte Mann, der am Kopfende des Tisches gesessen hatte, schlug einen leisen Gong und der Lärm verstummte.„Es ist Zeit, die Wünsche auszusprechen, die wir für die Zukunft unserer Familie haben, meine Kinder. Lasst mich beginnen. Ich wünsche allen meinen Nachkommen, dass ihnen das Schicksal eine solche Gnade gewährt, wie wir sie heute Abend erleben.“Die restlichen Anliegen hörte Moro nicht, sein Herz wurde schwer. Wie sehr wich doch sein eigenes Dasein von dieser Bitte ab. Was war geschehen, dass dieses Glück so grausam zerronnen war? Erst als er die festlichen Lieder wahrnahm, die die Menschen gemeinsam sangen, reagierte seine nach Harmonie und Schönheit dürstende Seele wieder und er gewann etwas von dem Frieden des Augenblicks zurück.Doch plötzlich störten Missklänge den fröhlichen Gesang. Aus der Gruppe löste sich eine durchscheinende Gestalt, die sich Moro und seinem Begleiter mit fürchterlich falschen Tönen auf den Lippen näherte.„Was tust du hier? Du solltest doch ganz woanders sein“, knarzte die Gestalt.Erschrocken senkte Moro den Blick. So viele Jahre lang hatte man ihn einem harten Drill unterzogen, sich in der Gewalt zu behalten, was immer auch geschah, und unter allen Umständen den Regeln zu gehorchen, denen er als Sklave unterworfen war. Und doch hatte er hier vergessen, wer und was er war, hatte die erste Lektion ignoriert, die im eingeprügelt worden war. Da legte sich ihm eine Hand auf die Schulter.„Er meint nicht dich, Moro, das gilt mir“, raunte sein Begleiter und an den Neuankömmling gerichtet, fuhr er fort: „Was willst du? Ich habe meinen Auftrag bereits erfüllt, ich bin also in meiner Freizeit hier. Und dieser junge Mann verdient eine erneute Anstrengung. Im Übrigen geht dich das gar nichts an, Luzifer.“„So, das glaubst du also, hm? Und wenn ich dir sage, dass mein Namensvetter und Boss mich beauftragt hat, genau den da pflückreif zu machen, Alessio?“„Nie wirst du ihn brechen, damit ihr ihn einsacken könnt. Dafür sorge ich. Das bin ich schon meinem Namen Beschützer schuldig. Wer von euch ist denn auf die idiotische Idee gekommen, ausgerechnet an Heiligabend einen Vorstoß zu versuchen?“„Du, wie es scheint.“„Quatsch. Unser Anliegen ist dem Weihnachtsfest doch sozusagen in die Wiege gelegt.“„Alessio, der will abhauen! Bleib gefälligst stehen, du Halbaffe!“Moro hatte wenig von dem Streit verstanden. Dass sie sich seinetwegen in die Haare bekommen hatten, war ihm allerdings klar. Und wenn er eines in seinem Leben gelernt hatte, dann, dass es besser war, den Mächtigen aus dem Weg zu gehen, wenn man nicht wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben werden wollte. Zentimeter für Zentimeter hatte er sich zurückgezogen, aber die Beschimpfung stoppte ihn sofort. Das war die Sprache, die er kannte, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Hilflos, mit herabfallenden Armen vor ihnen stehend, wartete er darauf, was sie über ihn beschließen würden.„Moro, ich bitte dich um Entschuldigung für uns beide“, meinte Alessio bekümmert unter dem Schnauben Luzifers, „besonders für mein Verhalten. Ich hätte es besser wissen müssen. Seht nur, der Streit in der Familie hat auch begonnen.“Entsetzt wandte Moro sich wieder der Szene in dem gemütlichen Zimmer zu. Obwohl noch alle Kerzen brannten, schien es dunkler darin geworden zu sein. Die Erwachsenen schrien sich gegenseitig an, ein kleines Kind weinte und andere suchten Schutz in den Armen der Mütter. In kürzester Zeit war die Weihnachtsfeier aufgelöst.„Ich habe mich ein wenig zu spät auf meine Aufgabe besonnen. Das tut mir leid, Moro. Was ich gezeigt habe, war eine Weihnacht, wie sie nach dem Wunsch deines Vorfahren auch für dich bestimmt war. Aber, wie du siehst, haben sich die Menschen heillos zerstritten. Nicht nur deine Vorfahren, nein, auch Freunde, Gemeinden und sogar Länder. Keiner gönnte dem anderen etwas, und vor allem, jeder misstraute jedem. Bis es zu den Großen Verteilungskriegen kam.“„Da war endlich was los! Nicht so ein langweiliger Stille-Nacht-Heilige-Nacht-Kram. Ich und meine Kollegen hatte jede Menge zu tun und einen Heidenspaß dabei. Einmal ist es mir gelungen, eine Gruppe der Mächtigen während eines Waffenstillstands zum Einsatz von biologischen Waffen zu überreden. Mein größter Erfolg! Du hast damals ganz schön dämlich aus der Wäsche geguckt, Alessio. Jammerschade, dass diese Zeit vorbei ist.“Moro schlug die Hände vor das Gesicht. Er konnte kaum ertragen, was er hören musste. Wenn er es gewagt hätte, sich in Gegenwart von Alessio und Luzifer zu setzen, er hätte dem Zittern in seinen Beinen nur zu gern nachgegeben. Gequält wartete er auf das, was noch kommen würde.„Deine Gehirnzellen haben wohl zu lange in der der Suppe gekocht, dass du sowas behauptest. Aber es stimmt, diese Kriege sind lange vorbei. Was sie gebracht haben, weißt du ja nur zu gut. Die Reichen sind noch reicher geworden, die Armen ärmer und die Erde wurde fast zerstört.“„Und Weihnachten gibt es nicht mehr“, rutschte Moro unaufgefordert heraus.„Stimmt. Statt friedlich im Kreis deiner Familie lebst du versklavt und rechtlos wie Vieh in einem Stall und liegst in diesem Augenblick gefesselt bis zur Nasenspitze auf einer Pritsche, weil du jemanden angerempelt haben sollst. Das Schlimmste daran ist, dass alle das für rechtmäßig und völlig in Ordnung halten. Sogar du tust das!“Moro starrte beschämt auf seine nackten Füße. „Ist es das denn nicht?“„Hörst du, Alessio? Wie soll ich denn da meinen Job vernünftig machen, frage ich. Wie Neid, Habgier und Hass zum Überkochen bringen? Das ist schwer genug, auch ohne dass du mir in die Quere kommst. Und zu dir, Moro, nein, es ist nicht in Ordnung. Du musst dich wehren und rächen, für alles, was sie dir antun. Ich habe da einen ganzen Berg an Vorschlägen für dich. Alle mehrfach erprobt.“„Halt den Rand, du Loch im Backenzahn der Menschheit. Das hier ist meine Show. Moro, du und deinesgleichen, ihr müsst euch tatsächlich zur Wehr setzen.“„Hab ich das nicht gerade eben gesagt, du Schwergewichtsboxer mit der Schlagkraft eines Wattebällchens?“„Geh deine Eingeweide braten und lass uns in Ruhe, Luzifer. Moro, wenn du wirklich willst, dass die Zukunft besser wird als die Vergangenheit, musst du anfangen, sie anders zu gestalten. Dazu musst du verstehen, wie es soweit kommen konnte. Du musst Weihnachten verstehen.“„Ts, Weihnachten verstehen. Ein toller Rat, Alessio. Soll er etwa, wenn sein Besitzer die Peitsche über ihm schwingt, treuherzig bitten, dass der ihm zuerst erklärt, warum der eine schlägt und der andere geschlagen wird? Du hast wieder mal zu viel Zuckerwolkenwatte genascht, stimmt’s? Ich sage dir, es geht nich…“Moro stand verlegen und wortlos zwischen Alessio und Luzifer. So verzweifelt er es sich wünschte, hier fand er den Faden nicht, der ihn aus seinem Elend leiten würde, mochten sie auch bis in alle Ewigkeit auf ihn einreden. Langsam stieg grauer Nebel auf und verschluckte seine Begleiter, die Stimmen verklangen. Moro spürte wieder die eng anliegenden Fesseln an Händen und Füßen und über dem Brustkorb, atmete die verbrauchte Luft in seiner Unterkunft. Vorsichtig sah er sich um. Ja, er war zurück. Er war nicht tot. Anscheinend hatte hier niemand sein Fehlen bemerkt. Tief ausatmend schloss er die Augen. Er war sicher, glaubte ohne jeden Zweifel daran, dass es kein Traum gewesen war. Insgeheim erneuerte er seinen Schwur und erweiterte ihn. Er würde fliehen, seinen Sohn suchen und finden und für ihn ein kleines bisschen von dem retten, was Alessio und Luzifer „Weihnacht“ nannte.© Maxi Magga 2021
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