Freitag, 24. Dezember 2021

[Weihnachtscountdown 2021] Tag 24 - Beitrag 3, 4, 5 - Tini Wider

Pepper und Noahs Weihnachten bei Familie Wright
(aus Zeitenchaos – Zurück in die Vergangenheit,
Band 2)


»Merry Christmas, Pepper«, Noah zieht mich in seinen Arm und ich vergrabe meine Nase an seiner Brust. Er hält mich so fest, dass mir beinahe die Luft wegbleibt. »Noah ...«, presse ich hervor und sofort lockert er seinen Klammergriff.
»Ich bin ja da. Und ich gehe auch nirgendwo hin.« Er schiebt mich ein Stück von sich und mustert mich, als könnte ich jeden Moment verschwinden.
»Keine Dreckstaschenuhren, keine Zeitreiseabenteuer. So einfach ist das«, bekräftige ich. Er nickt stumm. Das letzte Erlebnis ist zwar schon ein Jahr her, aber es steckt ihm noch tief in den Knochen. Für mich war es gar nicht so dramatisch, denn ich kenne die Geschichte nur aus Erzählungen. Es muss allerdings richtig schlimm gewesen sein ...

Noah, was ist das?
Was war das denn bitte für eine Begrüßung? Warum, verdammt, hatte er seinen Eltern nichts von mir erzählt? Der perfekt gezogene Lidstrich und das sorgfältig dezente Make-up in Altrosa meines Gegenübers stachen mir als erstes ins Auge und ich reckte das Kinn ein wenig höher. Alles an ihrem Gesicht war so makellos, dass ich am liebsten mit einem schmutzigen Finger darin herumgeschmiert hätte. Um ein Haar hätte ich bei dieser Vorstellung gegrinst, das wäre jedoch eher unvorteilhaft für uns ausgegangen und so brachte ich meine Miene mühsam unter Kontrolle. Freundlich, neutral, aber nicht zu offenherzig. Sie sollte bloß nicht zu dem Schluss kommen, dass sie mich mit einem Blick verunsichern konnte. Denn das war ganz offensichtlich ihr Plan. Meine perfekte Zwillingsschwester Pippa hätte natürlich ohne Probleme hier brilliert. Was heißt hier, Pippa war selbst für einen Besuch bei der Queen gerüstet. Allerdings lebte meine Schwester immer noch in unserem Heimatdorf und ich war hier. Ich sollte zumindest versuchen, einen guten Eindruck auf Noahs Eltern zu machen. Innerlich straffte ich mich und reckte das Kinn noch einen Millimeter höher. Okay, mit ein bisschen Überwindung konnte ich mich ein wenig so wie meine Schwester benehmen. Das wäre doch gelacht! Mit einer Körperhaltung, die an einen Besenstiel erinnerte, musterte Noahs Mutter mich eingehend von Kopf bis Fuß. Noah drückte meine Hand und ich erwartete einen Kommentar von ihm, der aber ausblieb. Was war sein Problem, dass er meine Anwesenheit bei dem Essen nicht vorher angemeldet hatte? Beteuerte er nicht oft genug, dass er mich liebte? Zugegeben, es hatte ein wenig gedauert, bis er sich seine Gefühle mir gegenüber eingestanden hatte. Ich hatte geglaubt, das wäre nur am Anfang unserer Beziehung so, aber langsam beschlichen mich Zweifel. So wie er sich im Moment benahm …
Nachdem sich keiner rührte, spähte ich hinter Mama Feldwebel vorbei und erhaschte einen Blick in den luxuriösen Eingangsbereich des Hauses. Gut, meine Familie war eine völlig andere Preisklasse als all das, was ich bis jetzt gesehen hatte. Das gab ihr aber kein Recht, mich so herablassend zu behandeln.
Ich hatte nicht die geringste Lust, mich noch weiter so unverhohlen inspizieren zu lassen und so beschloss ich, diesem dummen Szenario ein Ende zu bereiten. Selbst ist die Frau. Was meine Zwillingsschwester zustande brachte, würde mir auch gelingen. Mit Noah würde ich später noch ein Hühnchen rupfen. Ein kleines Hühnchen, weil er davor so süß gewesen war. Aber ungeschoren würde er mir nicht davon kommen.
Ich holte tief Luft, streckte Noahs Mutter die Hand entgegen und setzte ein strahlendes Lächeln auf.


***

»Ich wünsche Ihnen einen bezaubernden Abend, Mrs Wright. Mein Name ist Pepper Tea und ich bin Fotografin. Noah hat mich ganz spontan mitgenommen, ich hoffe, Ihnen ist das nicht unangenehm, aber ich wollte dieses unglaubliche Haus einmal von innen sehen«, sprudelte sie los, hatte sich mit jedem Satz zentimeterweise weiter vorgewagt und sich vorsichtig an meiner Mutter vorbeigedrängt. Nun inspizierte sie die Eingangshalle mit langsamen Schritten, als wäre sie nur aus diesem einen Grund hier. Sie formte mit den Zeigefingern und Daumen ein Viereck und sah hindurch, wie man durch einen Motivfinder sehen würde. Meine Mutter, leicht überrumpelt, warf mir einen starren Blick zu und strich sich über die perfekt sitzende Frisur, die auf mich immer wie zementiert wirkte. Pepper setzte den Frontalangriff unbeirrt fort und plapperte unentwegt, wie fantastisch die Winkel angelegt und wie intelligent die Zimmer miteinander verbunden wären, dabei stand sie nur in der Vorhalle. Damit hatte sie allerdings instinktiv ins Schwarze getroffen. Meine Mutter nickte wohlwollend und begutachtete ihre perfekt manikürten, Gold schimmernden Fingernägel. Dann faltete sie die Hände vor ihrem Bauch und erinnerte mich seltsamerweise an längst vergangene und sterbenslangweilige Kirchenbesuche.
»Ich war tatsächlich aktiv an der Planung der Räumlichkeiten beteiligt«, erläuterte sie und entlockte Pepper erstaunte Ohs und Ahs. Dabei hatte sie dem Architekten nicht nur einmal aktiv das Leben zur Hölle gemacht, erinnerte ich mich.
»Es ist die vollkommene Kombination aus historisch und zeitgemäß. Ich bin beeindruckt«, säuselte Pepper, aber schien zumindest teilweise ehrlich zu sein.
»Nun. Vielen Dank. Wir wohnen gerne in diesem Haus. Es freut mich, dass es Ihnen gefällt«, erwiderte sie nur noch halb so säuerlich. Meine Mutter wandte sich nun mir zu, eine Augenbraue wanderte ein paar Millimeter höher und ihre Nasenflügel vibrierten beinahe unmerklich.
Ich zuckte nur mit den Schultern. Pepper quasselte unaufhörlich wie ein Wasserfall, knöpfte ihren Mantel auf und präsentierte dabei ein dunkelblaues Samtkleid, das mit weißen Plüschrändern verziert war. Sie ähnelte ein wenig einer Eiskunstläuferin, wären da nicht die tintenblauen Schnürstiefel mit kleinen weißen Bommeln gewesen, die ihr bis zu den Knien reichten. Meine Mutter trat einen Schritt näher an mich heran und entfernte mir einen nicht vorhandenen Fussel von der Schulter. Irritiert bemerkte ich, dass sie ihre Hand dort liegen ließ.
»Deine Cousine wird heute auch hier sein. Besser gesagt, sie ist schon da. Sie macht sich im Moment ein wenig frisch. Das ist ein wichtiges Familientreffen. Ich hoffe, das ist dir klar«, erklärte sie in einem seltsam eindringlichen Tonfall. Mir war natürlich überhaupt nichts klar. Rein gar nichts. Außerdem war mir meine Cousine sowas von egal. Ein vages Bild eines achtjährigen, blonden Mädchens stieg vor meinem inneren Auge auf, das war aber schon alles.
»Wir werden wohl mit deinem Gast leben müssen, aber glücklich macht mich das nicht«, zischte sie mir in einer Lautstärke ins Ohr, die man quer durch den Raum hören konnte. Ungläubig schüttelte ich den Kopf und ich fuhr mir in einer hektischen Bewegung über den Mund.
»Was genau macht dich denn glücklich, Mutter?«, nuschelte ich in meine Hand. Wo war Finn, wenn man ihn am nötigsten brauchte? Erfolglos versuchte ich, in den Salon zu linsen, und schickte einen stillen Hilferuf ins Universum.
»Du sollst nicht immer so vor dich hin brummen. Kein Mensch versteht, was du sagst«, rügte meine Mutter in einem Ton, der mich in längst vergangene Kindertage versetzte. Sie verengte die Augen zu Schlitzen und beobachtete Pepper, die sich völlig unbeeindruckt im Raum bewegte.
Ohne mich anzusehen, fuhr sie fort: »Ich erwarte von dir, dass du dich um deine Cousine kümmerst, hast du mich verstanden, Noah?« Ich holte tief Luft, um etwas zu erwidern, als Finn endlich meine verzweifelten stummen Hilferufe aufzufangen schien und von der Couch aufsprang. Mit wenigen langen Schritten war er neben uns und antwortete an meiner Stelle.
»Geht um unser verehrtes Cousinchen?«, erkundigte er sich in leichtem Tonfall und sah zwischen uns hin und her. Ich nickte und er legte seine Hand auf den Arm unserer Mutter.
»Wir machen das schon. Wir werden die perfekten Gentlemen geben. Wir haben das voll im Griff. Vertrau uns, ja?«, säuselte er, der immer schon gewandter im Umgang mit ihr war. Und tatsächlich, ihre Züge wurden sofort weicher, Finn hakte sich bei ihr unter und zog unsere Mutter in Richtung Salon. Im Gehen drehte er sich zu mir um und zwinkerte mit verschmitzter Miene. Er erinnerte mich in diesem Moment stark an den zwölfjährigen Jungen, für den ich durch jede Hölle gegangen wäre. Manchmal war sein Timing absolut unschlagbar. Pepper drehte sich im Kreis, den Kopf im Nacken und bewunderte unsere Deckenbeleuchtung. Sie reckte ihren Arm nach oben und beobachtete begeistert die Lichtreflexe, die der riesige Kronleuchter über ihr auf ihren Fingern erzeugte. Am liebsten wäre ich genau da mit ihr geblieben, wo wir gerade standen, und hätte mich nicht weiter bewegt.
»Dieser Lüster ist ja eine Sensation, was der mit dem Licht macht, ist einmalig«, sagte sie mit leuchtenden Augen. Ich bemerkte an ihrem Tonfall, dass Pepper völlig ehrlich war, ihr Gesicht spiegelte die Begeisterung wider, die immer durchbrach, wenn sie über ihre Arbeit sprach. Mit einer sanften Bewegung legte ich ihr meinen Arm um die Schultern und zog sie an mich. Sie unterbrach ihren Redeschwall und ihre großen Augen blitzten.
»Na, komm rein in die Höhle des Löwen«, murmelte ich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie grinste breit und wir schlenderten mit langsamen Schritten in Richtung Salon. Meine Mutter stand mit aufeinandergepressten Lippen da, wie ein Feldwebel, und inspizierte den Raum Zentimeter für Zentimeter. Dabei schüttelte sie den Kopf, ließ uns jedoch nicht daran teilhaben, was sie so störte. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf und tippte auf ihre Schulter. Sie bot mir nur ihr Ohr dar, ohne sich umzudrehen, was mir das Gefühl vermittelte, dass ich sie bei einer unerhört wichtigen Aktion stören würde. Was war das, die Weihnachtsinspektion? Ich räusperte mich, um einen beherrschten Tonfall bemüht.
»Mutter, ich habe dir meine Freundin noch gar nicht offiziell vorgestellt«, sagte ich sachlich. Obwohl sie nicht reagierte, fuhr ich unbeirrt fort. »Das ist Pepper Tea. Pepper, das ist meine Mutter.« Wie in Zeitlupe drehte sie sich auf ihren hochhackigen Pumps um und wandte sich Pepper zu, als nähme sie sie erst jetzt so richtig wahr. Die Augenbrauen meiner Mutter waren mittlerweile am höchstmöglichen Punkt angekommen und dann landete ihr Fokus erneut auf mir. Ich war jedoch kein kleiner Junge mehr und ließ mich nicht so schnell einschüchtern wie früher. Schon lange nicht mehr. Mit gespielt gelangweilter Miene hielt ich ihrem Blick stand, bis ein kaum merkliches Zucken über ihr Gesicht huschte. Das war das gesamte Ausmaß einer Gefühlsregung, an der sie uns teilhaben ließ, denn nach diesem winzigen Ausbruch hatte sie sich wieder voll im Griff. Meine Mutter, der Gefühlseisschrank. Sie neigte den Kopf ein wenig, und adressierte Pepper direkt:
»Nun gut. Da Sie nun einmal hier sind, lasse ich eben ein zusätzliches Gedeck auflegen. Bitte legt doch endlich die Mäntel ab, ihr macht mich noch ganz nervös, wenn ihr so ungemütlich herumsteht.« Sie unternahm keinen Versuch, freundlich zu klingen. Im Gegenteil, es hörte sich direkt wie ein Vorwurf an.
Ungemütlich herumsteht? Dass ich nicht lache. Wer war hier die Queen der Ungemütlichkeit?
Damit wandte sie sich auf dem Absatz um und strich den schwarzen Bleistiftrock an den Seiten glatt, der so perfekt saß, wie es bei ihr immer der Fall war. Alles war glatt und saß perfekt. Seufzend half ich Pepper aus ihrem Mantel, legte die Hand auf ihren Rücken und schob sie weiter in den Raum hinein.
»Wow. Noah, das ist ja wirklich alles sehr beeindruckend«, flüsterte sie mir ins Ohr. Ich bewunderte, wie sie den spitzen Tonfall meiner Mutter mit Bravour ignorierte, und schüttelte nur den Kopf.
»Nur von außen, Süße, nur von außen. Der Schein trügt. Leider.« Unsere Hände fanden sich und wir verschränkten die Finger ineinander, was mir ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Der feste trockene Händedruck meiner tapferen kleinen Heldin erdete mich und ich straffte den Rücken. So ein Weihnachtsessen war doch ein Klacks. Wir schafften das. Pepper schüttelte ungläubig den Kopf und ich folgte ihrem Blick. Der riesige Weihnachtsbaum, der unsere Aufmerksamkeit sofort in den Bann zog, war stilvoll in Rot und Silber geschmückt und im Hintergrund boten die drei Tenöre die übliche Weihnachtsstimmung.
»Das ist ja …«, murmelte sie fasziniert und brach ab. Ich wartete gespannt, was mein Elternhaus für einen Eindruck bei Pepper hinterlassen würde, und beobachtete ihre Miene.
»Na, es wirkt wie aus einem Werbespot. Alles ein wenig zu perfekt. Ich meine das gar nicht böse. Da steht sogar ein Flügel, man kann es nicht besser inszenieren«, fasste sie ihre Gedanken prägnant zusammen. Schmunzelnd nickte ich.
»Überhaupt nicht. Du hast das, wie so oft mit Pepper’scher Treffsicherheit meisterlich ausgedrückt«, erwiderte ich. Sie ließ ihren Blick weiter im Raum herumschweifen.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man hier wohnen kann«, flüsterte sie mir zu, dann deutete sie mit dem Kopf in Richtung des riesigen Kamins, in dem ein gemütliches Feuer flackerte. »Ist das da drüben dein Vater?« Mit zusammengekniffenem Mund nickte ich. »Glaub mir, ich kann mir das auch nicht mehr vorstellen. Und ja. Das ist mein Vater«, antwortete ich mit kaum unterdrückter Bitterkeit in der Stimme. Er gab das klassische Bild eines englischen Lords ab, selbst wenn wir meines Wissens keine Adelstitel besaßen. Zumindest war ich mir dessen nicht bewusst und es war mir auch gleichgültig, im Gegenteil zu meinen Eltern. Er thronte in einem Ohrensessel, der genauso neben dem Kamin stand, als wäre er einem Telekommunikationswerbespot entsprungen.
»Warum raucht er die Pfeife nicht?«, wisperte Pepper. Es war mir ebenso unverständlich wie meiner Freundin.
»Keine Ahnung, aber es passt einfach ins Bild. Ich nehme an, weil Rauchen mittlerweile nicht mehr zeitgemäß ist, und in zweiter Linie ist es gesundheitsschädigend. Meine Mutter achtet sehr auf seine Gesundheit. Aber trotzdem gehört es zur Tradition«, versuchte ich zu erklären und hob hilflos die Achseln. Den Versuch, meine Eltern zu verstehen, hatte ich schon lange aufgegeben.
Finn hatte sich zu unserem Vater gesellt und hörte ihm scheinbar aufmerksam und höchst fasziniert zu. Ich straffte den Rücken.
»Okay. Bringen wir das hinter uns«, sagte ich mit fester Stimme. Mit Pepper an der Hand schritten wir zu dem großen Ohrensessel.
Ich platzierte die Mäntel achtlos auf der Couch, nur um meine Mutter zu ärgern. Finn beugte sich zu unserem Vater und beide übergingen unsere Ankunft, als wären sie völlig in ihr Gespräch vertieft. Wir mussten uns wohl oder übel anstellen, wie bei einer Audienz. Nein, ich vermisste wirklich nichts, seitdem ich ausgezogen war. Meine gesamte Familie spielte permanent eine Rolle in einem Stück, in dem ich schon beim Vorsprechen gnadenlos durchgefallen war. Pepper begnügte sich damit, den Raum zu begutachten, der zugegebenermaßen äußerst stimmungsvoll geschmückt war. Unschlüssig schob ich Pepper vor mich und fixierte meinen Vater. Sein dunkler Anzug, samt altrosa Einstecktuch, saß, wie immer, einwandfrei. Als wir so nahe vor ihm standen, dass er uns unmöglich ignorieren konnte, tat er so, als ob er uns erst in diesem Moment bemerkt hätte.
»Noah, Junge! Wie schön, dass du pünktlich bist«, sagte er mit gekünstelter Fröhlichkeit in der Stimme. Irgendetwas war faul an seiner Freundlichkeit. Sein Fokus war ausschließlich auf meine Person gerichtet, dabei übersah er Pepper demonstrativ und ich räusperte mich. Finn lehnte sich auf der Couch zurück und sah aus, als würde er auf ein Punch und Judy Puppentheater warten.
»Vater, darf ich dir meine Freundin vorstellen. Das ist Pepper. Pepper Tea«, erklärte ich mit Nachdruck. Dabei klammerte ich mich regelrecht an ihren Schultern fest und bewegte uns in dieser Art einen Schritt näher auf den Ohrensessel zu. Mein Vater zwang seinen Kopf in Peppers Richtung, bis er anschließend seinen Blick folgen ließ. Er musterte sie einmal vom Scheitel bis zur Sohle, ganz ähnlich, wie meine Mutter es davor getan hatte, dann beendete er die Inaugenscheinnahme mit einem herablassenden Gesichtsausdruck. Aber genau wie vorhin ließ sich meine tapfere Freundin davon überhaupt nicht beeindrucken. Im Gegenteil, sie streckte ihm ihre Hand entgegen und schüttelte sie so kräftig, dass mein Vater hilfesuchend zu mir starrte.
»Guten Abend, Mr Wright, und vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich wirklich sehr, hier zu sein. Noah spricht ja dauernd von seiner Familie«, plapperte sie drauflos. Gut, das saß. Aber diesen Seitenhieb hatte ich verdient. Schließlich hatte ich das leidige Thema, sie bei meinen Eltern anzukündigen, immer vor mir hergeschoben.
»Tut er das?«, Finns melodische Stimme triefte vor Sarkasmus und er ähnelte in diesem Moment extrem einer Katze auf der Jagd, seine Augen zu Schlitzen verengt. Pepper wandte sich ihm mit einem anmutigen Lächeln zu.
»Oh ja, andauernd. Er ist manchmal gar nicht von dem Thema wegzubekommen. Nicht wahr, Schatz?« Ihr Tonfall war locker, aber ich verstand den Subtext klar und deutlich. Wie gesagt, das hatte ich verdient. Finns dunkle Augen starrten Pepper jetzt unverwandt an und er begutachtete sie gründlich. Zu gründlich für meinen Geschmack. War dieser bescheuerte Kontrollblick eine genetische Veranlagung unserer Familie? Ich funkelte ihn wütend an und formte ein tonloses »Hör sofort auf damit«. Finns Miene veränderte sich schlagartig. Er sprang vom Sofa auf und positionierte sich direkt vor uns. Mit einer übertriebenen Geste knöpfte er sich sein Jackett zu und richtete die Krawatte. Dann fuhr er sich durch die dunklen Locken, die er heute glänzend nach hinten gegelt trug. Er wirkte wieder einmal wie ein italienischer Casanova. Ein dezenter Männerduft wehte mir um die Nase, trotzdem entgingen mir die Schatten unter seinen Augen nicht.
»Pepper Tea. Ich freue mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen. Wo hat mein Bruder dich denn die ganzen Monate über versteckt?« Das glattrasierte Kinn betonte seine Grübchen, welche ihm einen jungenhaften Zug gaben. Mit gesenktem Blick bot er ihr einen Arm dar. »Darf ich dich zu unserer Festtagstafel geleiten?« Nicht zum ersten Mal wurde ich von einem meiner Familienmitglieder beiseitegeschoben, aber das war ich ohnehin gewohnt. Pepper wandte sich mir zu und hob fragend die Hand. Ich entließ sie aus meinem Klammergriff und sie hakte sich bei Finn unter. Sofort tätschelte er ihre Hand und flüsterte etwas in ihr Ohr. Zufrieden registrierte ich, dass sie ihre spöttische Braue noch eine Nuance höher zog. Meine Pepper ließ sich vom Gelaber meines Bruders nicht so mir nichts dir nichts einwickeln.
»Noah. Junge«, adressierte mein Vater mich in seinem Wir-müssen-uns-unterhalten-Tonfall. Seufzend näherte ich mich dem Ohrensessel und nahm auf der Couch daneben Platz.
»Ja? Was gibt es denn?«, erkundigte ich mich, bemüht, locker zu klingen. Es gab ohnehin kein Thema, das nicht im Streit enden würde, also ließ ich ihn entscheiden. Mein Vater steckte die Pfeife in seinen Mundwinkel und berührte die Fingerkuppen seiner Hände. Er sah mich mit seinen dunklen Augen an und ich versuchte vergeblich, ruhig, aber teilnahmslos zu wirken.
»Was macht das Studium?«, leitete er die übliche Fragerunde ein. Was für ein Schwachsinn, denn was er eigentlich wissen wollte, war: Wann kommst du endlich zur Vernunft und hörst auf, dein Leben an die Musik zu vergeuden? Filmkomposition, kann man das überhaupt studieren? Was genau machst du dann damit? Kannst du dir damit deinen Lebensunterhalt verdienen? Ich unterbrach meine rasenden Gedanken, spielte stattdessen mit, indem ich antwortete:
»Alles bestens.« Dabei verschränkte ich die Arme vor der Brust und starrte in das Feuer im Kamin. Knackend zerfiel ein Holzscheit in seine glühenden Einzelteile.
»Gut. Gut. Nun, du hättest deiner Mutter mitteilen sollen, dass du einen Gast mitbringst. Wir hatten das alles genau geplant«, fuhr er fort und überraschte mich mit dem abrupten Themenwechsel. Erstaunt hob ich den Kopf. Damit hatte ich nicht gerechnet, und insgeheim stimmte ich meinen Eltern sogar zu. Verlegen rieb ich mir den Nacken.
»Ja, aber wir haben doch immer genug zu essen, oder? Ich kann mir nicht vorstellen …« Weiter kam ich nicht, denn ein schrilles Quietschen unterbrach mich mitten im Satz.
»Noah-iiii. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Du bist ja groß geworden. Lass dich mal anschauen.« Ungläubig starrte ich auf die schlanke, hochgewachsene, junge Frau, die aus Richtung Küche zu uns geschwebt kam. Ihre Erscheinung löste in meinem Hinterkopf eine vage Erinnerung. War das … Mein Vater war aufgesprungen und küsste ihre Hand, die lange, zartrosa Fingernägel mit glitzernden Steinchen zierten.
»Penelope. So schön, dass du es einrichten konntest. Es ist so eine Freude, dass du den heutigen Abend mit uns verbringst«, trällerte er mit übertriebener Fröhlichkeit. Ja, er trällerte. Was war heute mit meinen Eltern los? Die junge Frau nahm seine in ihre Hände und gab ihm ein Küsschen links und rechts auf die Wange. Mein Vater wirkte doch tatsächlich verlegen. Penelope. Das war die entfernte Cousine, von der meine Mutter vorhin gesprochen hatte. Wow. Penelope hatte sich unglaublich verändert. Ihre zuckerwattenrosafarbenen Haare waren kunstvoll hochgesteckt und als sie sich mir zuwandte, wippten einzelne hellblaue Strähnen hin und her.
»Na? Damit hast du nicht gerechnet, oder? Ist ja schon lange her. Sicher über zehn Jahre, oder?«, plapperte sie mit einem honigsüßen Lächeln im Gesicht los. Sie drehte sich einmal im Kreis und zückte ihr Handy. So schnell konnte ich gar nicht reagieren, hatte sie schon ein Selfie mit mir geschossen. Ich hatte meinen unglückseligen YouTube Ruhm aber noch viel zu präsent im Gedächtnis. Noah Wright gab es auf keinen sozialen Netzwerken mehr. Auch nicht mit Zuckerwattenbarbies. Oder besonders nicht mit solchen.
»Du postest das aber bitte nicht?«, sagte ich zu ihr. Es sollte nicht wie eine Frage klingen, sondern wie ein Befehl, ärgerte ich mich. Mit großen, hellblauen Augen starrte sie mich ungläubig an. Die Wimpern, mit denen sie jetzt blinzelte, erinnerten extrem an eine Kuh und waren so lang, dass sie unmöglich echt sein konnten. Sie klimperte noch einmal und schien ihre Fassung wiedererlangt zu haben, denn sie knuffte mich in den Arm.
»Du Witzbold. Nicht posten? Wieso das denn? Das ist doch mein Job. Ich bin Influencerin. Ich muss das posten. Das war dir bestimmt klar, nicht wahr?«, säuselte sie ungläubig. Ihr Weihnachtsengel-Lachen ließ alle im Raum in unsere Richtung starren. Ich schüttelte den Kopf und erwiderte ernst: »Das wusste ich nicht und das meine ich so. Ich will auf keinem Social-Media-Kanal auftauchen. Ist das klar?« Ich war aufgestanden und starrte sie eindringlich an. Zum Glück gelang mir mein ernsthafter Gesichtsausdruck, denn Penelope kicherte gekünstelt und legte mir beschwichtigend eine Hand auf die Brust. Unmerklich wich ich zurück, die Berührung löste ein unangenehmes Gefühl in meiner Magengegend aus. Außerdem war ich mir sicher, dass Pepper die Szene genau beobachtet hatte. Ihr Blick vom Tisch aus brannte beinahe körperlich in meinem Nacken.
»Danke, Penelope«, sagte ich mit Nachdruck und schob mich an ihr vorbei. Das ging mir hier schon alles viel zu lange und das Gespräch lief in eine total falsche Richtung. Vor allem sollte ich an der Seite meiner Freundin sein, und mich nicht von diesem Traum in Rosa abfotografieren lassen. Mit eiligen Schritten machte ich, dass ich zum Tisch kam, und legte Pepper die Hände auf die Oberarme. Ihre Miene war schwer zu deuten, ich konnte nicht ausmachen, ob sie sauer oder belustigt dreinsah. Da spürte ich ihre Finger zart auf meinen, was ich als positives Zeichen deutete. Ich beugte mich hinunter und flüsterte ihr ins Ohr:
»Alles in Ordnung?« Sie nickte nur und wisperte zurück.
»Später.« Oh, oh. Was hatte mein Bruder nur alles von sich gegeben? Ich beschloss, sie von nun an keine Minute mehr alleine zu lassen und nahm demonstrativ neben ihr Platz. Meine Mutter hob den Finger und setzte zu einer Rede an, die sich hundertprozentig um die Tischordnung drehte, als der Dreiklang der Tür ertönte. Pepper wandte sich mir zu.
»Wie viele seid ihr denn? So insgesamt?« Ich nahm ihre Hand und küsste sie. »Eigentlich kann das nur mein ältester Bruder Richard sein. Hoffentlich lenkt der ein wenig von uns ab. Er ist der absolute Vorzeigesohn und wird normalerweise ordentlich vorgeführt. Er ist … Genießt das«, erklärte ich. Pepper nickte und schielte zum Kamin, wo Penelope sich immer noch mit meinem Vater unterhielt.
»Und wer ist Zuckerwattenbarbie?« Ich grinste breit, weil sie es wieder mal schaffte, eine Person mit einem Wort so treffend zu umschreiben.
»Penelope Nonapta. Meine Cousine dritten oder vierten Grades. Das letzte Mal, als ich sie sah, war sie etwa einen Meter lang, trug weißblonde Zöpfe und eine Zahnspange. Obwohl sie damals schon einen Hang zu Hello Kitty hatte, wenn ich mich recht erinnere«, sagte ich. Pepper legte ihren Kopf schräg, musterte sie und kniff die Augen zusammen.
»Scheint so, als hätte sich nicht viel geändert seit damals. Und sie steht auf dich«, stellte sie trocken fest.
»Scheint so«, brummte ich. Steht auf mich? »Was? Wie meinst du das? Auf mich stehen. So ein Blödsinn.« Sie griff nach einem Wasserglas, das vor ihr zwischen all dem edlen Porzellan und glänzenden Silberbesteck stand und nippte daran
»Sie verschlingt dich geradezu mit ihren Blicken. Ich dachte mir schon, dass du das nicht mitbekommst. Spricht ja für dich, aber geheuer ist sie mir nicht«, führte sie aus und bei dem Gedanken schüttelte es mich im wahrsten Sinne des Wortes.
»Mir auch nicht. Sie bezeichnet sich selbst als Influencerin«, ergänzte ich und Pepper zückte sofort das Smartphone, um darauf herumzutippen. Ich warf Penelope einen versteckten Blick zu und hätte schwören können, sie musterte Pepper und nicht mich, aber im nächsten Moment konzentrierte sie sich völlig fasziniert auf meinen Vater. Ihre Miene spiegelte helle Begeisterung wider und mir war schleierhaft, welches Thema derart spannend sein konnte.
»Das haben wir gleich. Schließlich habe ich den sozialen Netzwerken nicht vollkommen abgeschworen wie du«, dabei grinste sie breit, ohne den Blick zu heben. Dann stieß sie einen leisen Pfiff aus.
»Da hat sie wohl recht. Fast 250’000 Follower auf Instagram. Das ist schon eine ganze Menge. Ach, sieh mal einer an, da ist ja dein Vater im letzten Post.« Der Schreck fuhr mir siedend heiß in den Magen.
»Zeig her«, forderte ich sie etwas schroff auf. Ungläubig starrte ich von der realen Szene zu dem Bild auf dem Display. Penelope hatte sich selbst samt meinem Vater beeindruckend inszeniert. Es wirkte wie aus einem kitschigen Weihnachtsfilm. Wie sie das so nebenbei hinbekommen hatte, war mir ein Rätsel. Ich scrollte schnell weiter, bis Pepper mir das Handy sanft entzog.
»Keine Fotos von dir. Mach dir keine Sorgen.« Dankbar lächelte ich sie an und atmete einmal tief durch. Sie las in mir wie in einem Buch.
»Der Vampir aus dem Outback bleibt für immer Vergangenheit. Versprochen«, neckte sie mich. In ihren Augen blitzte es und ich musste gegen meinen Willen grinsen. Wenn man mit einem Menschen etwas erlebt hat, das im Grunde unmöglich sein konnte, entstand eine Verbindung, die um vieles stärker war als bei gewöhnlichen Erlebnissen. So verrückt es klang, aber wir waren vor ein paar Monaten tatsächlich in der Zeit gereist. Ich war als todunglücklicher Telenovela-Star zurückgekehrt und Pepper hätte um ein Haar ihren Ex … Bei dem Gedanken daran schüttelte es mich und ich schob die unangenehmen Erinnerungen schnell beiseite.
»Ich habe mich schon damit abgefunden, dass du das Gegenteil eines Celebrities bist«, sagte sie sanft und sah zu mir auf. Dann strich sie mit einem Finger zärtlich über meine Wange. Ich vergaß die trübseligen Gedanken und die Umgebung, bis uns ein lautes Räuspern auseinanderfahren ließ.
Meine Mutter betrat mit meinem älteren Bruder Richard, der neben ihr wie ein Gigant wirkte, den Salon.
»Ist der wirklich mit dir verwandt? Das ist ja ein Riese von einem Mann«, bemerkte Pepper in ungläubigem Tonfall.
»Tja, manchmal frage ich mich das auch«, murmelte ich mehr zu mir selbst. Eine kleine, drahtige Frau, die ein Abziehbild meiner Mutter hätte sein können, trippelte auf hochhackigen Schuhen hinter den beiden her. Mein Vater schlenderte mit Penelope am Arm zu dem großen Weihnachtsbaum und sah erwartungsvoll in die Runde. Erneut klatschte meine Mutter in die Hände und schlug einen feierlichen Ton an.
»Ihr Lieben, wir versammeln uns nach alter Tradition vor unserem Weihnachtsbaum. Seid doch bitte so nett …« Ihr stählerner Blick blieb an uns hängen, da wir die Einzigen waren, die nicht reagiert hatten. Ergeben nahm ich Pepper an der Hand und wir erhoben uns. Tradition gut und schön. Eher Verherrlichung der Taten meiner Brüder, würde ich das nennen. Weder meine Erfolge noch Preise bei Musikwettbewerben waren jemals erwähnt worden bei der großen, jährlichen Weihnachtsbaumansprache. Aber so würden wir schneller zum Festmahl kommen und das war der effizienteste Weg, uns ohne viel Aufhebens gleich danach aus dem Staub zu machen.
»Macht man sowas nicht beim Essen? Oder nach dem Essen?«, flüsterte Pepper mir zu und ich zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Bei uns war es immer so«, entgegnete ich und positionierte sie erneut wie ein Schild vor mich. Dann schlang ich die Arme von hinten um ihre Taille. Penelope schoss einen giftigen Blick in ihre Richtung, der nicht einmal mir entging. Als ich die Stirn runzelte und sie meine Reaktion bemerkte, veränderte sich ihre Miene schlagartig. Es war erstaunlich, wie sie innerhalb eines winzigen Augenblicks ihren Gesichtsausdruck in weich und verletzlich verwandelte. Sie presste sogar die Pastell geschminkten Lippen aufeinander und betrachtete übertrieben aufmerksam ihre Fingernägel, die die Lämpchen des Weihnachtsbaums funkelnd im Raum verteilten. Doch bevor ich anfangen konnte, darüber nachzugrübeln, hob mein Vater sein Kristallglas. Finn tauchte unvermittelt neben uns auf und drückte uns je eine Sektflöte in die Hand. Dafür musste ich Pepper zwar loslassen, aber das ging nun einmal nicht anders.
»Liebe Familie. Olivia und ich sind hocherfreut, dass ihr an diesem Weihnachtsabend zu uns gefunden habt. Wie ihr wisst, pflegen wir diese Tradition schon seit Jahren und möchten die Gelegenheit nutzen, eine besondere Ankündigung zu machen«, erklärte mein Vater in geübter Manier. Pepper suchte meinen Blick, aber ich schüttelte nur ratlos den Kopf. Richard hatte seiner Freundin den Arm um die Taille gelegt, was ein wenig seltsam aussah, denn sie reichte ihm gerade einmal bis unter sein Kinn.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das ist die jüngere Schwester unserer Frau Mutter«, raunte mir Finn halblaut ins Ohr und ich unterdrückte ein Grinsen. Mein Vater warf mir einen strafenden Blick zu und ich seufzte. Er hatte das außerordentliche Talent, mich jedes Mal, wenn ich bei ihnen war, in meine Schulzeit zu versetzen. Um mich von dem unangenehmen Gefühl abzulenken, versuchte ich, mich zu erinnern, woher ich Richards Freundin kannte, denn sie kam mir seltsam bekannt vor, aber es wollte mir einfach nicht einfallen.
»Liebe Familie. Ihr kennt ja alle Nelly …« Diese warf ihm einen eisigen Blick zu, der ihn sofort innehalten ließ und er räusperte sich. »Ich meine natürlich, ihr kennt alle Thusnelda«, korrigierte er seine Ansprache. Pepper prustete los, versprühte einen feinen Champagnerregen und rettete sich in einen so täuschend echten Hustenanfall, dass sich selbst meine Mutter zu einem besorgten Blick in ihre Richtung herabließ. Meine Freundin wedelte nur mit der Hand vor dem Gesicht und ich klopfte ihr sachte auf den Rücken. Als sie sich mir zuwandte, blitzte der Schalk in ihren Augen auf. Wusste ich’s doch. Richard räusperte sich in seine Faust und ergriff das Wort.
»Wir haben uns hier versammelt, weil wir euch etwas mitteilen möchten. Meine liebe Thusnelda und ich …« Aus Peppers Mund kam ein langgezogener Quietschlaut und ich drückte ihre Schulter mit der freien Hand. Diesmal ließ mein älterer Bruder sich nicht beirren.
»Wir haben uns verlobt«, stellte er mit seiner Bassstimme fest und klang, als ob er uns eine mathematische Gleichung darlegen würde. Das war nun keine echte Überraschung, so wie sie das hier präsentiert hatten, aber meine Mutter schlug sich dennoch theatralisch die Hände vor den Mund, umarmte erst Richard und dann Nelly. Thusnelda. Dieser altmodische Name wollte einfach nicht in meinem Kopf bleiben. Penelope begann wie ein Gummiball auf und ab zu hüpfen und klatschte dabei mit wippenden, rosa und blauen Locken.
»Das ist ja so romantisch. Ach, wie wundervoll. Ich muss das sofort für meine Fans posten. Ein Antrag unter dem Weihnachtsbaum im Kreise der Familie, das ist einfach großartig«, säuselte sie aufgeregt. Ihr Blick landete bei Pepper, glitt dann zu mir und sie strahlte mich glücklich an. Es irritierte mich, dass sie Pepper, die genau in ihrer Luftlinie stand, trotzdem ignorierte. Es wirkte, als ob sie durch sie hindurch sah. Gequält lächelte ich zurück und erntete dafür einen Ellenbogen in die Rippen.
»Hab ich hier was verpasst? Das war doch kein Antrag oder bin ich zwischendurch eingenickt?«, flüsterte meine Freundin mit ihrer typischen Falte zwischen den Augen. Finn antwortete an meiner Stelle.
»Willkommen in unserer Familie. Wo das Weltbild immer ein wenig verschoben ist. Grundsätzlich. Wir können aber die wahre Begebenheit bestimmt gleich auf Instagram bei Cousine @Penelopes_Life nachlesen, nicht wahr? Nur, falls du etwas verpasst haben solltest.« Ich schüttelte den Kopf, aber er hatte es ziemlich genau auf den Punkt gebracht.
»Noah, komm und gratuliere dem glücklichen Paar«, befahl meine Mutter und wedelte mich mit einer Hand näher zum Baum. Finn gab mir Rückendeckung, indem er mir auf die Schulter klopfte und mich begleitete. Mit halbem Ohr registrierte ich, dass meine Mutter sich Pepper zugewandt hatte und sie in ein Gespräch verwickelte. Sofort ging ich in Alarmbereitschaft, musste mich aber erst um die Gratulation kümmern, dann würde ich wieder zu meiner Freundin eilen. Wer wusste schon, was der Gefühlseisschrank jetzt im Schilde führte?
»Pepper, nicht wahr? Was für ein … Außergewöhnlicher Name. Was machen Sie noch einmal beruflich?«, erkundigte sie sich in neutralem Tonfall. Pepper straffte den Rücken, hob das Kinn und zupfte ein unsichtbares Staubkörnchen von ihrem dunkelblauen Samtkleid.
»Ich bin ausgebildete Fotografin und arbeite in einem Fotolabor beziehungsweise einer Galerie in London«, verkündete sie mit hochgerecktem Kinn. Die Reaktion meiner Mutter bekam ich nicht mehr mit, denn wir waren bei Thusnelda angekommen, die unsere Glückwünsche hoheitsvoll entgegennahm. Ich streckte Richard die Hand entgegen, er ergriff sie und lächelte mich für seine Verhältnisse warmherzig an. Nelly hatte ihr Smartphone gezückt und tippte etwas darauf ein. Dann hob sie den Kopf.
»Richard. Den Termin mit den Houstons müssen wir verschieben. Ich regle das gleich hier und jetzt«, stellte sie so professionell fest, dass es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Nelly war schon seit Jahren Richards Sekretärin. Ohne Zweifel harmonierten sie im geschäftlichen wie im privaten Leben hervorragend. Ich beschloss, mir darüber kein Urteil zu erlauben, denn die beiden lächelten sich ein ums andere Mal verstohlen zu und im Grunde gönnte ich meinem Bruder sein Glück. Einen Stock im Hintern hatten sie ja beide. In dem Moment, in dem ich mich abwenden wollte, tauchte Penelope wie ein Springteufelchen vor mir auf. Ihre babyblauen Strähnen wippten vor meinem Gesicht hin und her und ich wich instinktiv einen Schritt zurück.
»Noah, wir haben uns noch gar nicht richtig unterhalten«, stellte sie fest und zog einen Schmollmund. Ich seufzte. Mein Vater gesellte sich zu uns und gab sich auffällig heiter.
»Was habt ihr denn an den Weihnachtsfeiertagen vor? Fahrt ihr womöglich irgendwo hin?«, erkundigte er sich und sah zwischen uns hin und her. Ungläubig starrte ich ihn an. Er konnte Zuckerwattenbarbie doch nicht wirklich mit Pepper verwechseln? Dieser Unterschied musste sogar meinem ignoranten Vater auffallen. Ich hüllte mich in Schweigen und ließ Penelope quasseln.
»Ich würde ja so gerne Skifahren gehen. Ich war letztes Jahr in Val d’Isère, kennt ihr das? Das war einfach himmlisch. Aber Kanada würde mich auch reizen. Revelstoke oder Whistler sollen ja ausgezeichnete Skigebiete sein. Was meinst du, Noah?« Mein Mund klappte auf, aber ich wusste beim besten Willen nicht, was ich darauf antworten sollte.
»Wenn ich mich recht erinnere, ist doch Frankreich ein Land, das du liebst, nicht wahr, Sohn?«, sprach mein Vater mich direkt an. Sein Ton war nachdrücklich, aber ich verstand absolut nicht, was hier ablief.
»Äh … Ich bin nicht so der Skifahrer«, stotterte ich verwirrt und suchte Peppers Blick, die sich aber immer noch mit meiner Mutter unterhielt. Penelope ließ sich davon ohnehin nicht beirren.
»Man müsste ja nicht Skifahren. Eine romantische Schlittenfahrt wäre doch genauso schön, oder?«, schlug sie vor. Diese überlangen Wimpern waren mir nicht geheuer. Vor allem, wenn sie damit zu klimpern begann.
»Hm …«, versuchte ich mich aus der Konversation zu winden. Mein Vater strahlte uns abwechselnd an und tätschelte die Wange meiner Cousine.
»Na, ich sehe schon, ihr habt euch noch viel zu erzählen.« Meine Augenbrauen wanderten nach oben, denn das war die einzig halbwegs passende Reaktion, die mir einfiel. Ich hätte auch laut schreien können: Seid ihr alle komplett durchgedreht, was geht denn hier ab? Das hatte jedoch meiner Erfahrung nach ohnehin keinen Sinn. Penelope hakte sich bei mir unter und schlenderte in Richtung Tisch. Sie zog mich einfach mit sich und ich war derart überrumpelt, dass ich nicht in der Lage war, mich zu wehren. Mein Plan, Pepper keine Sekunde aus den Augen zu lassen und beim Essen neben ihr zu sitzen, war somit kläglich gescheitert. Im Gegenteil, ich fand mich sogar am weitesten von ihr entfernt wieder, als meine Cousine mich mit sanfter Gewalt zu einem Stuhl manövrierte. Die Tatsache, dass Finn sich neben Pepper platzierte, machte mich gleichermaßen nervös, aber beruhigte mich auch. Er stellte vor allem einen passablen Schutz gegenüber meinen Eltern dar, denn diesbezüglich konnte ich mich voll auf ihn verlassen.
Was er Pepper erzählte, war mir jedoch schleierhaft. Vor allem, da er ihr permanent etwas ins Ohr flüsterte und ihr meiner Meinung nach viel zu nah kam. Mittlerweile kicherte sie ihr hinreißendes Lachen, das mich ein wenig eifersüchtig werden ließ. Dieses Lachen gehörte nur mir.
Meine Mutter klatschte in die Hände, eine ihrer Lieblingsgesten an diesem Abend, und zwei Kellner in Livree und weißen Handschuhen tauchten mit voll beladenen Platten auf. Misstrauisch äugte ich immer wieder zu Finn und Pepper. Sie schienen sich bestens zu unterhalten. Leider schnatterte Penelope permanent irgendetwas vor sich hin und ich hatte keine Chance, nur ein Wort von dem Gespräch am anderen Ende des Tisches zu verstehen. Zum Glück fragte mein Vater Richard nach seinen beruflichen Heldentaten aus und ich konnte mich erfolgreich völlig ausklinken. Um nicht versehentlich in eine Konversation verwickelt zu werden, konzentrierte ich mich auf das Essen vor mir und zog den Kopf ein. Zumindest war das Catering diesmal richtig lecker. Wenn der Abend so weiterging, würden wir hoffentlich glimpflich davonkommen und uns nach dem Dessert elegant verabschieden. Bei dem Gedanken entspannte ich mich ein wenig.
»Noah. Junge? Hörst du nicht zu?«, riss mich die Stimme meiner Mutter aus meinen Überlegungen, diese Feier so schnell wie möglich hinter uns zu bringen. Ich hob den Kopf und bemerkte mit Entsetzen, dass mich alle, bis auf Finn und Pepper, erwartungsvoll ansahen. Ich sah in die Runde und versuchte, irgendeinen Gesprächsfetzen zu rekonstruieren, aber in meinem Hirn herrschte absolute Leere.
»Äh … Wie bitte?«, probierte ich es mit einem charmanten Lächeln. Meine Mutter rollte theatralisch mit den Augen und formulierte ihre Frage noch einmal betont langsam.
»Du kannst Penelope bestimmt ein wenig ausführen, wenn ihr wieder in London seid, ja?« Ihr eindringlicher Blick haftete an mir wie der eines Reptils. Sie blinzelte nicht einmal.
»Sicher. Wenn du mal in London bist, melde dich einfach«, antwortete ich unverbindlich, halb an Penelope gewandt. Sie strahlte über das ganze Barbiegesicht.
»Du hast doch bestimmt Zeit in den Weihnachtsferien, nicht wahr? Oder hast du Prüfungen?«, schaltete sich mein Vater ein und es klang eher so, als ob er davon ausging, dass meine Prüfungen ohnehin nicht der Rede wert waren. Er hatte noch nie wirklich verstanden, was ich studierte.
»Klar, Pepper und ich können mit dir eine kleine Stadtrundfahrt machen, warum nicht?«, sagte ich leichthin, um das Thema schnell abzuschließen. Die Lippen meiner Mutter kräuselten sich, als hätte sie eine Zitrone im Mund.
»Warum sollte Pepper das wollen?«, fragte sie in einem so abfälligen Tonfall, dass mir der Kragen platzte.
»Weil sie meine Freundin ist und weil ich die meiste Zeit mit ihr zusammen bin«, antwortete ich scharf. Was sollten diese seltsamen Verkuppelungsversuche?
»Ja, aber das ist doch sicher nichts Ernstes. Also kannst du genauso gut deine Zeit mit Penelope verbringen,«, schlug meine Mutter vor und ich schnappte nach Luft. Ich legte betont langsam die Serviette zur Seite, schob den Stuhl zurück und erhob mich.
»Gut. Das war’s dann. Das ging ja schneller, als ich dachte. Habt noch einen schönen Abend.« Mein Vater öffnete den Mund, aber ich warf ihm einen eiskalten Blick zu, der sogar ihn im Ansatz verstummen ließ.
»Pepper, wir gehen«, forderte ich sie mit einem knappen Nicken auf.


***

»… Und du flunkerst mich wirklich nicht an?«
Finn schüttelte den Kopf und zog eine empörte Schnute. Er legte zwei Finger in einer großen Geste an sein Herz und machte ein so ernsthaftes Gesicht, dass ich kichern musste.
»Er war Prinzessin Diana und ich war Charles. Halt, nein …«, er tippte sich mit dem Finger an die Unterlippe. »Manchmal durfte ich Prinzessin Margaret sein.« Er spießte ein Stück Broccoli auf seine Gabel und nickte dazu bestätigend.
»Die fand ich ohnehin immer viel cooler. Royale Rebellin und sowas.« Ich starrte Noahs Bruder an. Das waren ja wunderbar pikante Details, die ich alle zum geeigneten Zeitpunkt hervorzaubern würde. Ich liebte den Schlagabtausch mit Noah, aber manchmal fehlte mir ein wenig das Hintergrundwissen, welches Finn jetzt bereitwillig mit mir teilte.
»Wieso war er so besessen von Diana?«, erkundigte ich mich und warf einen Blick zum anderen Ende des Tisches. Noah saß mit eingezogenem Kopf da und versuchte, so unsichtbar wie möglich zu sein. Er wirkte dabei so unglücklich, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre und ihn erlöst hätte. Das tat er immer, wenn er mit einer Situation nicht klar kam und am liebsten einfach davongelaufen wäre. Verglichen mit ihm, hatte ich einen erstaunlich netten Abend. Finn war, wenn man sich mit ihm ein wenig länger unterhielt, witzig und ebenso charmant wie sein Bruder.
»Wenn du möchtest, zeige ich dir später ein Foto«, holte er mich aus meinen Gedanken zurück. Ich grinste breit.
»Ihr beide als Prinzessinnen auf einem Beweisfoto … Äh, damit will ich sagen, ja, bitte, unbedingt«, antwortete ich und unterdrückte mit Mühe ein Lachen. Das wurde ja immer besser. Finn verengte seine Augen und taxierte mich.
»Ich sehe schon, du bist mit allen Wassern gewaschen. Ich habe übrigens eine Idee …« Unsere Aufmerksamkeit wurde in diesem Moment auf das laute Geräusch von Noahs Stuhl, wie er über den Boden schrammte, gelenkt. Alarmiert wechselte ich einen Blick mit Finn, als Noah laut und deutlich rief:
»Pepper, wir gehen.«

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[Winterlesezauber] Ines Parizon

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