Weihnachten ohne Strom
Autor: Markus Mattzick
Details: Spin Off zu „Ohne Strom – Wo sind deine Grenzen?“. Die Geschichte greift den Plot einer Nebenfigur auf (und soll auch neugierig auf den Roman machen).
Zu seiner Linken konnte er die Kisten mit der Weihnachtsbeleuchtung sehen. Letztes Jahr hatte er sich noch mit dem Nachbarn einen freundschaftlichen Wettbewerb um das am kreativsten geschmückte Haus geliefert.Dass dieser Nachbar im Herbst bei einem der verzweifelten Angriffe der Wetzlarer auf Umbach durch den Pfeil einer Armbrust getötet worden war, hätte ihn eigentlich schockieren sollen.Eigentlich.Tobias hatte nicht vergessen, dass dieser Nachbar einer aus der Meute war, die ihn am Ende des Prozesses wegen des Mordes an Boris noch im provisorischen Gerichtssaal des Bürgerhauses lynchen wollten.Im letzten Moment hatten ihn Beweise gerettet, die eindeutig für diesen Krankenpfleger Florian als Täter sprachen, der nach dem Tod des Kinzig-Jungen das Dorf überstürzt verlassen hatte.Die Einzigen, die sich bei ihm entschuldigt hatten, waren die gewesen, die ohnehin bis zuletzt für ihn gekämpft hatten. Alle anderen taten so, als ob nichts gewesen wäre, oder sie feindeten ihn offen an.Er hatte versucht, wieder in die Gemeinschaft zu kommen, sich bei den Ernteeinsätzen ins Zeug gelegt und auch bei den Arbeiten an der Wallanlage hatte er sich verausgabt. Es half nichts, die meisten mieden ihn und er hatte oft den Eindruck, dass Gespräche erstarben, wenn er zu einer Gruppe hinzukam.»Einer wie du sollte am Galgen baumeln und nicht uns anständigen Bürgern das Brot wegessen!« Tobias stand ganz vorne in der Schlange am Backhaus, um sein Brot abzuholen. Er drehte sich um und sah den Hass in den Augen des Mannes.»Einer wie ich?«, fragte Tobias.»Ein Mörder«, warf ihm der Mann vor. »Dein Glück, dass Florian weg ist und er sich nicht verteidigen kann. Der war ein anständiger Kerl, hat im Hospital und bei der Pflege unser Senioren geholfen. Aber du? Der Totengräber! Man sollte …«»Was soll das?«, unterbrach ihn Nadine Bodner, die mittlerweile von der Dorfversammlung als Bürgermeisterin betätigt worden war. »Tobias’ Unschuld wurde bewiesen.«»Bewiesen?«, geiferte der Mann. »Das waren nur Indizien, die ihm den Hals aus dem Strick gezogen hatten. Jeder hier weiß doch …«»Jeder?«, unterbrach ihn Nadine.»Ja, jeder«, wiederholte der Mann und deutete auf die Schlange. »Frag doch einfach mal die Leute. Wir wollen nicht mit dem Abschaum zusammen anstehen müssen.«Tobias war an die Ausgabe gekommen, nahm dankend sein Brot und blieb kurz neben Nadine stehen: »Lass nur. Ich danke dir. Bei den meisten verschwendest du nur deinen Atem.«Niedergeschlagen war er nach Hause gekommen und hatte sich gefreut, als er sah, wie ein Kurier des Pony-Expresses etwas in seinen Briefkasten geworfen hatte. War einer seiner Briefe angekommen und war das endlich die Antwort? Von wem würde sie sein? Seiner Schwester, die in Passau lebte oder gelebt hatte? Seinem Bruder, den es in die Nähe von Freiburg gezogen hatte? Direkt nach seiner Begnadigung hatte er an beide Briefe geschrieben, nicht wissend, ob sie überhaupt ankommen würden. Einen regulären Postbetrieb gab es nicht mehr, aber es war ein Netzwerk aus Kurieren entstanden, die Briefe von Ort zu Ort trugen. Man wusste nicht, ob etwas überhaupt ankam und je weiter entfernt das Ziel war, umso wahrscheinlicher war es, dass ein Brief auf dem Weg verloren ging.Mit zitternden Händen hatte Tobias den Briefkasten geöffnet. Der Umschlag war zerknittert und fleckig, die Schrift war ihm unbekannt und sein Herz blieb für einen Augenblick stehen.Lieber Tobias,ich bin der Nachbar deiner Schwester, wir hatten uns bei ihrer Geburtstagsfeier lange über Gartenpflanzen und Rockmusik unterhalten.Leider muss ich dir mitteilen, dass deine Schwester und ihr Mann die Unruhen nach dem Stromausfall nicht überlebt haben. Auch wir leben mittlerweile in einem kleinen Dorf, Passau ist wie ausgestorben. Ein gemeinsamer Bekannter deiner Schwester und mir ist Kurier und hatte deinen Brief an sie zu mir gebracht.Mein Beileid zu deinem Verlust.Tränen füllten die Augen von Tobias, seine Hand krampfte sich zusammen und zerknüllte den Brief, den er einfach fallen ließ.In seiner Garage stehend trafen die Erinnerungen an diesen vergangenen Tag Tobias mit voller Wucht und wieder liefen ihm Tränen die Wange herunter. An diesem Vormittag hatte er wieder einen Brief erhalten, in dem ihm jemand, den er nicht kannte, im feinsten Behördendeutsch vom Tod seines Bruders berichtete. Keine Details, kein Datum, einfach nur, dass er nicht mehr lebte.Er sah nach oben und überprüfte mit zitternden Händen, ob er das Kabel gut befestigt hatte, zog sich daran etwas hoch und war zufrieden, dass es nicht nachgab.»Frohe Weihnachten«, sagte er zu sich selbst und trat den Stuhl unter sich weg.
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