Der Geist der Quelle
Draußen war es bitterkalt. Der Schnee lag knöchelhoch auf den Platten des Vorhofes. Ich blickte mich um. Vielleicht hatte Raffael ebenfalls genug vom Weihnachtstrubel und das Bedürfnis nach etwas frischer Luft verspürt. Die dunkle Wand des naheliegenden Waldes zog mich magisch an und ich folgte seinen stillen Rufen. Schnell verschluckte mich das dichte Unterholz. Bereits nach wenigen Schritten umwaberte mich dichter Nebel und raubte mir die Sicht. Plötzlich hielt ich inne. Leiser Gesang drang an mein Ohr. Kurzentschlossen folgte ich der Stimme. Dann erkannte ich sie. Diese klare kräftige Gesangsstimme gehörte Raffael. Was hatte er in dieser Abgeschiedenheit zu suchen? Endlich sah ich ihn.Trotz der schneidenden Kälte stand er mit entblößtem Oberkörper auf einer Lichtung, die Arme zum Nachthimmel erhoben. Meine Augen weiteten sich. Noch immer überwältigte mich der Anblick seines mächtigen Körpers. Das Mondlicht übergoss ihn mit seinem silbrigen Licht. Ich blieb wie angewachsen im Schutz der alten Eiche stehen, wagte kaum zu atmen. Das Bild, das sich mir bot, wirkte wie aus einer weit zurückliegenden heidnischen Zeit. Verzauberte mich. Ich wagte kaum zu atmen, um den Zauber dieses Augenblicks nicht zu zerstören. Direkt vor ihm sprudelte Wasser aus dem Gestein, sammelte sich in einem natürlich entstandenen Becken. Das Quellwasser leuchtete im Licht des Mondes wie Quecksilber. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand. Still, starr und atemlos. Irgendetwas hinderte mich daran, mich bemerkbar zu machen. Plötzlich stieg feiner Nebel aus der Quelle empor, verdichtete sich immer weiter. Eine hauchzarte Gestalt kristallisierte sich aus dem Nebel heraus und in diesem Augenblick verstummte Raffaels Gesang. Er ließ seine Arme herabsinken, überkreuzte seine Hände vor der Brust und neigte sein Haupt. Raffael begann in einer Sprache mit dieser Erscheinung zu sprechen, die mir irgendwie vertraut vorkam, der ich jedoch nicht mächtig war. Tief und kehlig kamen die Laute über seine Lippen, beschwörend und nachdrücklich. Eine fremde Sprache aus einem fremden Leben. Ich konzentrierte mich wieder auf das Geschehen vor mir. Die Nebelgestalt schwebte über dem silbernen Wasser und ich vermeinte, ein leises Lachen zu hören. Ihre Hand streifte sanft Raffaels Stirn.»Ich bin erfreut, Euch nach so langer Zeit wieder an den heiligen Quellen begrüßen zu können, Bhampair.«Raffael trat zurück und versank in eine tiefe Verbeugung. »Ihr wart schon ungezwungener im Umgang mit dem Vampirfürsten, A’Bhean-uasal a furaran, Herrin der Quelle.«Ein perlendes Lachen schwebte über den Nebeln des Wassers, dem sie entstiegen war. »Huldigt ihr endlich wieder dem alten Glauben, oder habt Ihr Euch endgültig abgewandt?«Raffaels Stimme wurde schmeichelnd. »Würde ich Euch ansonsten heraufbeschwören? Ich erbitte Euren Segen an diesem Weihnachtstag für meine Verbindung.«Die Nebelgestalt glitt über die vom Frost glitzernde Wiese auf ihn zu. »Ihr seid in festen Händen, wie man in der alten Welt munkelt. Eine Sterbliche. Tsss..., Raffael. Wie konntet Ihr?«»Sie gehört zu mir, ist meine Vertraute, mein Leben. Ihr kennt unsere Rituale.«Sie seufzte. »Ich weiß, aber eines Tages werdet Ihr sie einführen, nicht wahr Raffael.«Raffael kniete sich nieder, legte seine Faust auf sein Herz und senkte sein Haupt. »So wahr ich hier stehe.«Ihre Gestalt flimmerte in einem unirdischen Licht, als sie ihn zu sich emporzog. Flirrende Teilchen umtanzten Raffael wie winzige Kristalle, die im Silberlicht des Mondes funkelten. Sie wurden zu einem wirbelnden Sturm, in dessen Auge Raffael hoch aufgerichtet, mit zum Himmel gehobenen Armen stand und die silbernen Funken durch seine Fingerkuppen in sich aufnahm. »Der Segen des Wassers, der Lüfte und der Erde sei Euch gewährt. Gesegnet seien Eure Nachkommen und Eure Liebe.« Lächelnd fügte sie hinzu. »Und verweist den Geist der Quelle nicht vollends aus Eurem Herzen, Raffael.«Sie schraubte sich in die Lüfte, dabei löste sich ihre gestaltliche Form auf, wurde zu einer Pirouette aus reinem Licht. Dann zerplatzte sie förmlich zu einem silbernen Funkenregen, der Raffaels Gestalt umtanzte, bis ihn ein silbriger Schleier vollends bedeckte. Dann zerstob dieser Schleier erneut in seine winzigen Bestandteile und glitt mit einem eleganten Schwung zurück in die Quelle, aus der sie gekommen war. Ein letztes Mal erklang ein glockenhelles Lachen und die Nacht verharrte wieder in ihrer Stille.
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