Sonntag, 19. Dezember 2021

[Weihnachtscountdown 2021] Tag 19 - Beitrag 9 - Margit Hoffmann

Und Menschen gehen vorbei.


Es war mal wieder Weihnachten. Das Wievielte? Egal. Einmal von vielen. 
Heute war der Heilige Abend, der 24. Dezember. 
Die alte Dame lief mit langsamen, kleinen Schritten durch die Berliner Friedrichstraße. Sie stützte sich auf einen Stock, denn das Laufen fiel ihr schon ganz schön schwer. Zusätzlich war sie auch ziemlich rundlich, was die Fortbewegung nicht gerade erleichterte. 
Um sie herum spielte sich der übliche Weihnachtstrubel ab. Menschen hetzten und jagten irgendwelchen Geschenken nach, die jeder haben musste, aber doch eigentlich niemand benötigte. Sie genoss diesen Trubel. Das brauchte sie im Moment. Sie konnte ihr Altenheim heute nicht so recht ertragen. Jeden Tag der gleiche Trott. Aufwachen, den Tag verbringen, schlafen gehen. Jeden Tag der gleiche Kreisverkehr. Die gleiche Monotonie. Sie wollte heute Menschen um sich spüren. Fühlen, das da noch Leben war. Im Altenheim war heute alles besonders stressig. Alles sollte geschafft werden und die Pflegekräfte hatten ja schließlich auch Familie. Da ging es schon hektischer zu als an anderen Tagen. Sie hatte auch keine große Lust auf die übliche Weihnachtsfeier zu warten. Sie wollte raus. Sie meldete sich ab und fuhr mit der S-Bahn zur Friedrichstraße. 
Sie liebte diese Straße. Hatte eine ganz besondere Beziehung zu ihr. In ihrer Jugend hatte sie im Bereich der Friedrichstraße ihre Berufsausbildung gemacht. War also täglich dort. Ja, das war lange her. Es hatte sich alles sehr verändert. Sie war sich nicht mal sicher, ob ihr das immer gefiel. Doch was blieb übrig, man musste es nehmen, wie es war. 
Langsam schlenderte sie die Straße entlang. Hin und wieder blieb sie stehen. Mal um in das eine oder andere Schaufenster zu sehen oder auch nur um einen Moment auszuruhen und zu verschnaufen. 
Nun merkte sie jedoch, das ihre Kraft nachließ und sie sich lieber auf den Heimweg machen sollte. Sie gab sich mit dem Gefühl einen schönen Nachmittag genossen zu haben zufrieden und steuerte auf den Bahnhof zu. Da geschah es. Sie schaffte es nicht mehr, ihre Füße ausreichend zu heben, und stieß gegen einen erhöht liegenden Pflasterstein. Ehe sie es sich versah, stolperte sie und lag auch schon flach auf dem Boden. Eine volle Bauchlandung, wie sie für sich selbst feststellte. Mühsam raffte sie sich wieder auf die Beine in der stillen Hoffnung, dass ihr jemand half. Hoffen konnte man ja. Sie hoffte und Menschen gingen vorbei. Vorbei. Blicke sagten, was macht die alte Frau heute auf der Straße? Böse Blicke machten weniger Mühe. Als sie endlich wieder auf den Beinen stand, kamen zwei junge Männer auf sie zu gerannt und einer der beiden fragte ganz aufgeregt: »Ey, Lady ist ihnen was passiert? Können wir helfen?« Nachdem sie gedanklich ihre Knochen sortiert hatte, stellte sie fest, dass alles in Ordnung war. Nur ihr Bauch, der den ganzen Aufprall abgefangen hatte, tat etwas weh. Sie bedankte sich bei den Jungs und versicherte ihnen, dass wirklich alles bestens sei. Die beiden machten sich Sorgen und fragten noch einmal: »Ist wirklich alles in Ordnung?« Sie konnte sie jedoch beruhigen. Sie waren immer noch sichtlich aufgeregt. Nun schaute sie sich ihre Helfer interessiert an. Waren das nicht solche Jugendlichen, über die andere schimpften? Wild und unbändig. Der junge Mann, der sie als erster angesprochen hatte, sah sie aus großen dunklen Augen besorgt und fragend an. Sein Gesicht hatte die Kindheit noch nicht einmal richtig hinter sich gelassen. Seine ebenfalls dunklen, längeren Haare streben in alle Himmelsrichtungen und hatten den Kampf mit dem Kamm anscheinend schon vor längerer Zeit aufgegeben. Seine Kleidung war undefinierbar. Eine Mischung aus Leder, Second Hand und Ketten. Seine Stiefel gingen zwar fast bis zu den Knien, schlappten aber aus Mangel an Schnürsenkeln bei jeder Bewegung um seine Beine. Sein Freund war ähnlich gekleidet, nur das sein Haar zu einem Regenbogen farbigen Hahnenkamm gestylt war. Beide trugen Piercings in Nasen, Augenbrauen und Ohren. Also um das mal kurz zu sagen. Irgendwie Punks. Nun fragte der Dunkelhaarige, ob die beiden sie nach Hause bringen konnten. 
Die alte Dame bedankte sich ganz herzlich bei den Jungs und erklärte ihnen, dass sie nur zur S-Bahn musste. Da entschieden sie: »Okay, dann bringen wir Sie wenigstens zum Zug.« 
Über so viel Hilfsbereitschaft war die alte Dame ganz gerührt. Die Jugendlichen nahmen jeder sein Bündel, denn sie schleppten ihr Hab und Gut mit sich herum, und hakten die alte Dame mit dem jeweils freien Arm unter. In dem Moment war ihr bewusst, dass die beiden obdachlos waren. Gemeinsam gingen sie die kurze Strecke bis zum Bahnhof. Vor dem kleinen Imbiss, der sich im Bahnhofsgebäude befand und ein Bedienungsfenster zur Straße hatte, stand ein Holztisch und zwei Bänke. Als sie dort ankamen, denn sie mussten daran vorbei, um das Bahnhofsgebäude zu betreten, sagte die alte Dame: »Wartet mal Jungs« und ging zu dem Kioskfenster. Zurück kam sie mit drei großen Portionen Currywurst mit Pommes Frites. Dazu für jeden eine Flasche Bier und ein kleines Taschenfläschchen Weinbrand. »So« meinte sie, »lasst es euch schmecken. Heute ist Weihnachten.« Ungläubig sahen die beiden auf den Tisch. »Das ist doch nicht nötig. Das geht doch nicht« sagte der Dunkelhaarige etwas hilflos. Da nahm die alte Dame die Regie in die Hand und meinte resolut: »Jetzt halt den Schnabel und futter. Sonst wird es kalt. Ich heiße übrigens Gerda.« Da machten sich die beiden Jungs über das Essen her. Sie hatten heute noch nichts Ordentliches gegessen. Bevor sie jedoch anfingen zu essen, bedankten sie sich herzlich. Der Dunkelhaarige meinte mit vollem Mund kauend, »ich bin Tom und das ist Basti«. Er deutete mit dem Kopf auf seinen Freund. Dieser nickte zustimmend. 
Dann wandte er sich an Gerda, »deine Familie macht sich bestimmt schon Sorgen. Gerade heute.« 
»Familie?« Gerda sah versonnen vor sich hin. Tom sah sie fragend an. »Hast du keine Familie«? 
»Doch, schon.« Gerda nickte. »Aber auch wieder nicht.« Nachdenklich schaute sie in die beginnende abendliche Dunkelheit. »Mein Mann zog es nach der Geburt unseres zweiten Kindes vor, das Weite zu suchen. Das war ihm alles zu viel Familie, Kinder, Verantwortung, Pflichten und Aufgaben. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Also zog ich meine beiden Kinder alleine groß.« 
Tom fragte, »hat er sich nicht wieder gemeldet?« »Doch«, Gerda nickte, »er wollte ja seine Kinder sehen, nur zahlen wollte er nicht. Das ist doch ein häufiges Problem. Ich schaffte es auch alleine, dass aus meinen Kindern etwas wurde.« Basti wollte wissen, »feierst du nicht Weihnachten mit ihnen?« Gerda sah ihn wehmütig an. »Das wäre schön, doch wie soll das gehen. Mein Sohn ist Offizier auf einem dieser riesigen Passagierschiffe. Dieser schwimmenden Hochhäuser. Der hatte bisher noch keine Zeit, sich eine Familie aufzubauen. Wie denn auch, wenn man nur immer in der Weltgeschichte herumschippert. 
 Dreimal im Jahr, zu Ostern, zu Weihnachten und zum Geburtstag bekomme ich eine Karte aus irgendeinem exotischen Land. Zu mehr bleibt keine Zeit. Meine Tochter hat mit ihrem Mann zusammen ein Restaurant in Südafrika aufgebaut und hat dazu noch fünf Kinder. Da bleibt beim besten Willen keine Zeit übrig. Wir sprechen hin und wieder übers Internet. Das ist es dann aber auch schon. »Mama, dir geht es doch gut im Altersheim, nicht wahr«? Ja, mir geht es gut. Was auch sonst?«
Tom legte ihr den Arm um die Schulter. »Sei nicht traurig. Wir bleiben Freunde.«
Nun musste Gerda lächeln und schrieb ihren zwei Helfern ihre Adresse und Handynummer auf einen Zettel. »So, ihr beiden. Jetzt erzählt doch mal etwas von euch.« Basti zuckte die Schultern. »Was gibt es da groß zu erzählen. Ich kenne so etwas wie Familie nicht. Bin im Heim aufgewachsen. Dort hatte ich meine Ordnung, ordentliche Kleidung und satt zu essen. Was noch?« Das klang nicht gerade nach glücklicher Kindheit. »Als ich siebzehn war, bin ich aus dem Heim getürmt und auf der Straße gelandet. Das war es auch schon. Hab mich irgendwie daran gewöhnt.« Mit etwas verlorenem Blick schaute er über die Straße und es schien, als ob er im Leeren landete. Gerda hatte plötzlich das Gefühl, als ob Einsamkeit ansteckend ist. Sie schaute zu Tom. »Und du, wie sieht es bei dir aus«? Tom kaute noch an seinen Pommes. Sah mit düsterem Blick auf die Tischplatte. »Da gibt’s nicht viel zu berichten. Meine Eltern wetteiferten damit, wer als Erster die Flasche geleert hat. Wenn mein Vater blau war, prügelte er auf meine Mutter und meinen Bruder ein. Ich war der Jüngste und bekam bei jeder Kleinigkeit etwas ab. Irgendwann lernte mein Bruder dann die falschen Leute kennen und landete im Gefängnis. Ich habe danach nichts mehr von ihm gehört. Als ich sechzehn war, hatte ich endgültig die Nase voll von den Prügeleien und alle dem. Ich packte meinen Rucksack und verschwand von zuhause. Seitdem lebe ich auf der Straße. Ja, so ist das nun mal.« 
Jetzt herrschte betretendes Schweigen. Was sollte man auch dazu noch sagen? 
Sie hatten nicht gemerkt, wie die Zeit verging. Von überall hörte man Glockenläuten. Erst verhalten doch dann immer kräftiger werdend. Sie sahen sich einen Augenblick unsicher fragend an, doch dann kam es ihnen schlagartig wieder zu Bewusstsein. Heute war ja der Heilige Abend und es war achtzehn Uhr. Die Glocken läuteten den Heiligen Abend ein. Die Geburt Christi. 
Basti kramte in seinem Rucksack und holte einen halb abgebrannten Kerzenstumpf heraus. Dann nahm er einen der Bierdeckel, stellte den Kerzenstumpf darauf und zündete ihn an. Anschließend griff er zu seiner Gitarre und stimme leise und zart eine Melodie an. Leise sang er den Text dazu und Sekunden später stimmten auch Tom und Gerda mit ein. Nun blieben einige Passanten stehen und ehe sie es sich versahen, sang ein Chor aus zufällig vorbeieilenden Menschen das Heilige Lied und das nicht nur in einer Sprache. Ein paar vereinsamte Schneeflocken verirrten sich zu ihnen, als ob sie dazu gehörten. Sie hatten plötzlich das Empfinden, das All ihre Sorgen und Probleme von ihnen abfielen und ganz klein wurden. Alles wirkte wie in Watte gehüllt. All die Geräusche, die rundum auf sie eindrangen, erschienen ihnen viel leiser, viel gedämpfte, entfernter. Als hätte jemand eine Glocke über sie gestülpt. Oder hat vielleicht ein Engel schützend seine Flügel über diese drei Menschen gehalten? Ein warmes Gefühl durchströmte sie. Beklommen sahen sie einander an. Gerda, Tom und Basti lächelten und ergriffen ihre Hände, um sich gegenseitig eine frohe Weihnacht zu wünschen. 
Basti entlockt seiner Gitarre mit klammen Fingern noch einige weitere Weihnachtslieder. 
Irgendwann sah Gerda auf die Uhr und stellte erstaunt fest, wie spät es inzwischen schon war. Dann meinte sie an Tom und Basti gewandt: »So Jungs, jetzt muss ich aber gehen, die Leute im Heim machen sich schon Sorgen, wo ich bleibe. Ich will doch niemandem das Fest verderben.« 
Alle drei umarmen sich zum Abschied und versprachen in Kontakt zu bleiben. Anschließend fuhren Tom und Basti mit ihrer neuen Freundin Gerda die Rolltreppe zum Bahnsteig hinauf und warteten mit ihr auf den Zug, den sie nehmen musste. Der kam auch gleich. Sie halfen Gerda beim Einsteigen und wünschten sich gegenseitig noch alles Gute. Gerda sagte noch: »Ihr meldet euch« und schon schlossen sich die automatischen Zugtüren. Sie konnten nur noch winken. Beruhigt, stellten die beiden Jungs fest, das Gerda einen Sitzplatz bekam. Dann sahen sie dem Zug hinterher, bis er in der nächsten Kurve ihren Blicken entschwand. Sie sahen sich beide an und wünschten sich: »Frohe Weihnachten«.

Keine Kommentare:

[Blogbeitrag] Sucht und KI im Alltag

Alle fragen mich immer, warum bist du eigentlich gegen KI. Aber bin ich wirklich gegen KI, oder bin ich gegen die genAI und die Auswirkungen...