Ruhige Feiertage?
Kurz vor Weihnachten und ich bin noch immer nicht in Stimmung. Das ist mir noch nie passiert – zumindest nicht, seit ich denken kann. Ich liebe Weihnachten! Ich besorge bereits frühzeitig Geschenke, dekoriere und backe Plätzchen. Ich liebe den Duft, der durch das Haus weht, wenn die knusprigen Leckereien im Ofen ihre Zeit absitzen. Ich kann es kaum erwarten, dass das weihnachtliche Gebäck auskühlt, damit ich endlich meiner kreativen Ader freien Lauf lassen und sie verzieren kann. Doch dieses Jahr hat mich das Gefühl noch nicht erreicht. Zu viel ist geschehen in der letzten Zeit und mein Kopf ist mit anderen Dingen beschäftigt. So sehr, dass für Weihnachten kein Platz zu sein scheint. All das, was mir immer wichtig war, rückt plötzlich in den Hintergrund. Dieses Jahr wünsche ich mir nur eines – Ruhe. Dummerweise habe ich keine Ahnung, wie ich das meiner Familie erklären soll. Sicher, Heilig Abend werde ich mit meinen Eltern, Geschwistern und Großeltern feiern, aber die Weihnachtsfeiertage will ich einfach nur meine Ruhe. Kein Hetzen von einem Event zum nächsten. Aber wie kann ich all dem entkommen?In Gedanken versunken sitze ich auf meinem Fenstersims und starre auf die dicken Schneeflocken, die zu Boden segeln. Es ist lange her, dass es kurz vor Weihnachten so geschneit hat. Ich hoffe nur, dass der Schnee liegen bleibt und dieses Winterwunderland noch eine lange Zeit zu sehen ist. All der Dreck und Schmutz wird von einem weißen Mantel verhüllt. Die Welt sieht friedlich und frei aus. Als gäbe es keinen Schmerz und kein Leid. Nur diese friedvolle Stille, die zum Träumen einlädt. Keine Jahreszeit bringt mir so viel Frieden. Nur dieses Jahr sitze ich schwermütig vor dem Fenster und starre hinaus. Meinen dicken, flauschigen Pullover habe ich bis über die Knie gezogen und meine nackten Füße wippen auf und ab.Ein schrilles Klingeln lässt mich aufschrecken und ich wäre beinahe kopfüber vom Fensterbrett gekippt, so sehr habe ich mich erschrocken. Welcher Vollidiot klingelt denn um halb acht hier an der Tür? Ich ärgere mich, dass ich meine kleine Welt der Gedanken verlassen muss, nur weil jemand möchte, dass ich ihm die Tür öffne. Wie so oft sind meine Eltern unterwegs und meine Brüder verlassen sicher nicht ihre Zimmer, um jemanden hereinzulassen.Seufzend schleppe ich mich die Treppen nach unten und öffne dem ungebetenen Gast die Tür. Zumindest war er ungebeten, bis ich sehe, wer es ist. Marcus steht vor mir. Weiß wie ein Schneemann. Sofort beginnen meine Augen zu leuchten und mein Mund verzieht sich auf magische Weise zu einem Lächeln. Ich kann nicht anders, wenn ich ihn sehe. Er schafft es immer, mir ein Lächeln zu entlocken.„Hey Kleines. Darf ich rein?“, fragt er, während er sich zu mir nach unten beugt und mir einen keuschen Kuss gibt.Ich bin eher von der ungestümen Sorte. Ich falle ihm, nachdem sich meine erste Starre verflüchtigt hat, euphorisch um den Hals und drücke ihm einen dicken Kuss auf seine weichen Lippen. Er grinst, hebt mich hoch und trägt mich nach oben, nachdem er die Tür hinter uns geschlossen hat. In meinem Zimmer angekommen, kuscheln wir uns auf mein Bett und genießen die Anwesenheit des anderen. Doch die Stille bleibt nicht lange. Marcus' tiefe Stimme bricht das Schweigen. „Kleines, was machst du an Weihnachten?“, fragt er sanft und ein wenig unsicher.Ich seufze. Genau darüber habe ich gerade nachgedacht. Darüber, dass ich einfach nur meine Ruhe haben will. Doch genau jetzt ist der Moment, in dem er mir sagt, dass er mich mit zu seiner Familie nehmen will. Dass ich noch eine Anlaufstelle mehr habe, die ich absolvieren muss. Ich atme tief durch und lasse mir nichts anmerken.„Heilig Abend werde ich hier feiern. Vielleicht hast du ja Lust... ach egal. Naja – und die Feiertage...“„Du klingst nicht gerade begeistert...“, lacht er und wuschelt mir durch die Haare.„Hey!“, motze ich und versuche sofort, mein Haar wieder zu ordnen.Ich hasse es, wenn er mich wie ein Kleinkind behandelt, nur weil er älter ist als ich.„Kratzbürste“, zieht er mich auf und zieht mich noch näher zu sich.„Hmmmm...“, grunze ich und schmolle ein wenig vor mich hin.Es hat nicht so gut geklappt, mir nichts anmerken zu lassen. Das muss ich wohl noch ein paar Mal üben. Aber ihn scheint es nicht zu stören, dass ich miese Laune habe. Er wirkt ausgelassen, fröhlich und, für seine Verhältnisse zumindest, beinahe euphorisch.„Von mir aus können wir Heilig Abend gerne hier sein, aber nur, wenn du mich an den beiden Feiertagen begleitest“, sagt er und das Mädchen in meinen Kopf beginnt zu schreien und zu kreischen. Es rauft sich die Haare und trommelt mit den Fäusten gegen meinen Schädelknochen. Natürlich will er, dass ich ihn begleite. Ich wusste es!„Wenn es sein muss“, sage ich platt und äußerlich sehr gefasst. Von dem Sturm in meinem Kopf bemerkt er nichts.„Ich muss darauf bestehen. Alleine wird mir sicherlich sehr schnell kalt...“„Was redest du denn da für wirres Zeug?“, frage ich, während ich mich aus seinem Arm winde, mich umdrehe und ihn anstarre.Und jetzt lacht er. Laut und herzlich und lange. Er lacht und gibt mir keine Antwort. Ich sitze vor ihm und habe ein Fragezeichen im Gesicht. Was soll das alles werden, wenn er fertig ist?„Hallo? Was hast du denn vor an den beiden Feiertagen?“, frage ich mit Nachdruck und verschränke gleichzeitig die Arme vor meiner Brust. Ich bin gefrustet.„Mein Onkel hat eine Hütte im Schwarzwald. Einsam gelegen, mitten im Nirgendwo. Als Kind war ich oft dort und die Abhänge waren super zum Schlittenfahren. Ich habe ihn gefragt, ob ich über Weihnachten hin könnte – mit dir. Nur wir beide. Was sagst du dazu?“Das Grinsen auf seinem Gesicht ist breiter als jemals zuvor und ich bin so überwältigt, dass ich stumm vor ihm sitze. Die Augen weit aufgerissen und die Hände auf mein Herz gepresst, glotze ich ihn fassungslos vor Glück an.„Ich nehme an, dass das „Ja“ bedeutet...“Seine Worte holen mich aus meiner Starre und ich nicke heftig. Dann falle ich ihm um den Hals, bedecke sein Gesicht mit Küssen und juble. Ich habe Ruhe und Frieden und Marcus an Weihnachten. Knisterndes Kaminfeuer, kuschelige Kleidung und eisige Kälte. Genau das, was ich brauche, um mich von allem hier zu erholen. Und genau in diesem Augenblick liebe ich ihn noch ein kleines bisschen mehr als vorher...
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