Montag, 20. Dezember 2021

[Weihnachtscountdown 2021] Tag 20 - Beitrag 13 - Lucia Bolsani

Jasper – Merry Christmas
von Lucia Bolsani


Playlist
Rudolf the Red-Nosed Reindeer – Gene Autry
Thank God It’s Christmas – Queen
Flieger, grüss mir die Sonne – Extrabreit
Ich will keine Schokolade – Trude Herr



München, 24.12.2005

Zimtallergie.
Ich hätte eine Zimtallergie erfinden sollen. An Weihnachten ist überall Zimt drin – in Plätzchen, Glühwein, sogar in der Bratensoße, ganz sicher. Niemand kann von einem Zimtallergiker erwarten, auf eine Weihnachtsfeier zu gehen … oder?
Doch der Geistesblitz kommt zu spät. Ich sitze bereits eingekeilt zwischen Rob und Joe im Kleinbus des Theaters »Rainbow Venus« und werde durch Francines rasanten Fahrstil abwechselnd gegen die beiden Schauspieler gepresst. Während das begeisterte Kreischen meiner Mitfahrer das Scheppern des Songs »Rudolf the Red-Nosed Reindeer« aus dem Autoradio übertönt.
Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, Rob oder Joe näher zu kommen. Nur leider sind die beiden zusammen und ein flotter Dreier war noch nie mein Ding. Hätte ich bloß diese Allergie rechtzeitig ins Spiel gebracht!
Aber auf der steifen, förmlichen Veranstaltung, zu der wir fahren, gibt es wahrscheinlich sowieso nur Champagner und Horsd’oeuvre. Schließlich wurden wir von einem stinkreichen Weinhändler eingeladen – so ein blasierter Snob, der glaubt, nur weil er das Theater fördert, kann er sich alles erlauben: Francine das Herz brechen, zum Beispiel. Habe ich gleich gesehen, als er mit seinem Sohn auf der Premiere unseres Stücks war. Wahrscheinlich ist ein Travestiekünstler zu schrill für den hochwohlgeborenen Geldsack – gut genug, um ein bisschen Flair auf eine Veranstaltung zu bringen, aber nicht gut genug fürs Bett.
Dann dieser Sohn, der Prinz! Der ist noch schlimmer. So ein Strahlemann, dem die ganze Welt zu Füßen liegt. Kunststück. Das schulterlange, dunkle Haar war doch nie und nimmer von allein so schick zerzaust. Da musste schon der Starfriseur ran. Dann die Klamotten, lässig elegant aus teuren, dunklen Stoffen, kein formeller Anzug, aber auch kein Freizeitlook, den Kragen der Jacke hochgestellt und das Hemd ein Stück weit offen – genau der Trend, den namhafte Designer derzeit propagieren. Hat alles zusammen hat sicher dreimal mehr gekostet, als ich die ganzen zwei Monate in meinem Praktikum als Maskenbildner verdiene. Natürlich hing so eine Barbiepuppe am Arm des Nachwuchsschnösels. Wahrscheinlich hat sie durchgängig gequietscht: »Hach, ist das aufregend hier!«
Okay, in Wahrheit habe ich gar nicht gehört, dass sie überhaupt was gesagt hat. Lag aber nur daran, dass ihr der Prinz die ganze Zeit seine Zunge in den Hals geschoben hat. Vor lauter Fummeln hat er wahrscheinlich gar nix von der Vorstellung gesehen. Blödmann.
Francine biegt mit quietschenden Reifen erneut ab. Alle kreischen laut mit. Ich blicke aus dem Fenster. Wir sollten bald da sein. Der Gestank von altem Geld quillt schon aus den meterhohen, efeubewachsenen Mauern, die die Straße säumen. Komisch, dass vor dem riesigen Bungalow, vor dem wir halten, nicht noch ein Butler im Frack steht. Würde doch passen. Francine parkt reichlich schief vor einer geschmückten Tanne, unsere bunte Truppe drängt schubsend aus dem Wagen und stürmt schnatternd hinein.
»Hab’ ich einen Hunger!«
»Wo ist der Prosecco?«
»Los gehts!«
Mein Versuch, mich direkt unauffällig zu verdrückten, wird durch Joes beherztes Eingreifen verhindert. »Komm, Jasper, die Weihnachtspartys hier sind legendär! Bloß die Musik ist mal wieder … Robbie, hast du die CDs mit?«, brüllt er und zerrt mich mit hinein.
Ich stolpere hinter Joe her. Eigentlich finde ich ja »Thank God It’s Christmas«, das gerade läuft, ganz cool. Wir drängen in eine gut besuchte Eingangshalle, die mindestens so groß ist wie die im Theater. Überall stehen schicke Stehtische mit weißen Hussen. An jeder Ecke heischt blinkender und glitzernder Weihnachtsschmuck um Aufmerksamkeit. Es riecht nach Orangen und Tannenzweigen. Ich will mich von dem ganzen Pomp hier nicht beeindrucken lassen und tue es doch. Wenigstens werde ich in dem Gedränge nicht auffallen. Es sieht aus, als hätte jemand die Hippies vom Monopteros, Picassos Schüler, den Club der toten Dichter und natürlich unsere Theatertruppe in einen Shaker geworfen, einmal durchgeschüttelt und hier wieder ausgegossen. Wegen meiner schlichten, schwarzen Jeans und dem langweiligen Rolli hätte ich mir keine Gedanken machen müssen. Einen Dresscode gibt es definitiv nicht. Einzig der Gastgeber, dieser Angeber, trägt einen Smoking, in dem er trotz seines nicht unbeträchtlichen Leibesumfangs recht gut aussieht. Er scheint sich auch nicht daran zu stören, dass Francine mit wehenden Röcken auf ihn zustürmt und seinen Hemdkragen mit ihrem Lippenstift versaut. Der Snob lächelt milde und gibt ihr sogar ein Geschenk – nicht nur ihr, sondern jedem aus unserer Truppe.
Ich versuche, unauffällig mit der Menschenmenge um mich herum zu verschmelzen, und beziehe schließlich hinter zwei meterhohen Dattelpalmen Stellung, die nicht so ganz zu dem weihnachtlichen Flair passen wollen. Auf die Peinlichkeit, als einziger kein Präsent zu erhalten, kann ich verzichten. Sicher weiß der Hausherr nicht mal, dass es mich gibt.
Wo der Prinz wohl ist, sein Sohn? Sicher schon wieder mit einem Mädel zugange. Interessiert mich wirklich nicht. Ich würde mir nur gerne was zu essen holen und will dem Geck nicht aus Versehen in die Arme rennen. Der denkt womöglich, ich hätte mich hier eingeschlichen.
Schon entdecke ich ihn. Eifrig füllt er das Buffet auf. Aha? Hätte nicht gedacht, dass so einer mit anpackt. Wahrscheinlich will er irgendjemanden beeindrucken, nur, falls es nicht reicht, dass er in dem strahlend weißen Hemd, das fast bis zum Bauchnabel offen steht und ganz schön viel bronzefarbene Haut freigibt, verboten gut aussieht.
Funktioniert auch noch.
Während er eifrig immer neue Köstlichkeiten auf einen Tisch stapelt, der bereits übervoll ist, lacht und scherzt er mit den Umstehenden. Jeder, der es schafft, seine Aufmerksamkeit zu erringen, sonnt sich in seinem Glanz.
Ich schiebe mich näher an den Stamm einer Palme heran. Toll. Ich wünschte, ich wäre so. Souverän. Strahlend. Stattdessen verstecke ich mich im Grünzeug.
Na ja, wenn ich in so einem Haus leben würde und so viel Kohle hätte wie der, wäre ich auch selbstbewusster. So ein südländischer Typ hat es sicher auch leicht bei den Mädels: ein großer, athletischer junger Mann mit markanten Gesichtszügen. Da werden doch gleich die Höschen nass. Spätestens, wenn er sie mit einem Blick aus diesen haselnussbraunen Augen ansieht, fallen bestimmt die letzten Hüllen.
Okay, die Mädels könnten mir gerne gestohlen bleiben. Mir wäre eher nach einem Typen mit so kräftigen Armen, wie er sie hat, inklusive starker Schulter zum Anlehnen. Warum sehen eigentlich die bescheuertsten Heteros immer so aus, als seien sie direkt einem meiner feuchten Träume entsprungen?
Ach, ich sollte an was anderes denken … oder gleich abhauen. In diesem Nobelviertel fährt aber sicher kein Bus, an Heiligabend schon gar nicht. Für ein Taxi habe ich kein Geld. Zimtallergie. Warum ist mir das nicht früher eingefallen?

Es wird noch voller, noch lauter. Inzwischen dröhnen Schlager durch die Räume. Gerade läuft »Flieger, grüß mir die Sonne«. Mindestens jeder zweite Gast singt total schräg mit. Alle scheinen sich prächtig zu amüsieren. Ich verlasse meine Deckung und schiebe mich durch eine Unmenge schwitzender Leiber bis zum Buffet. Endlich angekommen, stehe ich direkt vor den Desserts. Geil! Ich habe auch mal Glück. Mousse au Chocolat! Dafür würde ich töten. Ich lade mir einen ganzen Teller damit voll.
Von guten Manieren zeugt das nicht gerade. Aber nun ist es zu spät. Ich kann das Dessert schlecht zurückschaufeln. Besser, ich sehe zu, dass ich wieder unsichtbar werde. Eine Tür scheint nach draußen zu führen und ein wenig frische Luft käme mir gerade recht. Zu meiner Erleichterung ist die Tür offen und ich schlüpfe hinaus. Im Halbdunkel erkenne ich, dass ich hinter dem Haus gelandet bin: eine marmorgepflasterte, verlassene Terrasse, dahinter ein endloser Garten. Passt. Ich tunke meinen Löffel in die Mousse, da entdecke ich ihn: den Prinzen.
Keine drei Meter von mir entfernt.
Allein.
Mit einem Whiskeyglas in der Hand lehnt er an einem kleinen Mäuerchen und blickt in den Sternenhimmel.
Jetzt leuchtet er nicht mehr. Auch sein Lächeln ist wie weggeblasen.
Sieht nicht gut aus. Warum wirkt der Strahlemann mit einem Mal so verloren? Irgendetwas stimmt da nicht.
Das geht mich allerdings nichts an. Wenigstens hat er mich noch nicht entdeckt. Verdammt, ich hätte die Mousse mit zu meinem neuen, besten Freund, der Dattelpalme, nehmen sollen. Das werde ich lieber schleunigst nachholen. Ich weiche zurück, als mir auffällt, dass die Tür hinter mir ins Schloss gefallen ist. Und auf dieser Seite ist ein Knauf, keine Klinke. Scheiße! Ich sitze fest.
Ein paar Meter entfernt ist noch eine Tür, die zudem sperrangelweit offensteht, aber um dort hinzukommen, müsste ich an dem Prinzen vorbei. Dieser nimmt gerade einen großen Schluck aus seinem Glas. Mist. Er sieht nicht so aus, als wolle er gleich gehen.
Das ist nicht nur verdammt peinlich, nein, es gibt noch ein Problem. Mein Hirn scheint irgendwie einen Aussetzer zu haben. Es funkt ständig: »Haben, haben, haben!«
Na ja, vielleicht ist es eher mein Schwanz, der das funkt. Ausgerechnet den! Haben die was in die Mousse getan? Allerdings habe ich gerade mal zwei Löffel voll davon gegessen. Was nun?
»Mein Vater war ein bisschen traurig, dass du dein Geschenk nicht abgeholt hast, Jasper«, sagt der Prinz unvermittelt.
Mir fällt fast der Teller aus der Hand. Ich hätte schwören können, dass er mich noch gar nicht bemerkt hat. Seine dunkle Stimme löst einen wohligen Schauer in mir aus. Doch damit nicht genug: Sein Vater kennt meinen Namen, hatte sogar ein Geschenk für mich … und der Prinz weiß auch, wer ich bin.
Wahrscheinlich muss er das. Ob sein Vater ihm die monatlichen Bezüge streicht, wenn er nicht alle Namen der Gäste auswendig aufsagen kann?
Ich weiß, dass ich ungerecht bin. Weil er jetzt den Kopf zu mir dreht, mich ansieht, als sei ich irgendwie wichtig. Begehrenswert. Ich fühle mich verraten. Ich bin kein Spielzeug für einen gelangweilten Upperclass-Jungen. Entschlossen mache ich zwei Schritte auf ihn zu.
»Du stehst nicht auf Männer!«, sage ich anklagend und unterstreiche meine Worte, indem ich mit dem Dessertlöffel auf seine Brust ziele, als wolle ich ihn erstechen.
Total unpassende Bemerkung. Total unpassendes Benehmen. Ich merke, wie ich rot anlaufe. Hoffentlich sieht er es im Halbdunkel nicht.
»Vielleicht stehe ich auf Menschen«, meint er jedoch bedächtig. Ein trauriges Lächeln umspielt seinen sanft geschwungen Lippen. »Aber ich tue ihnen nicht gut, Jasper. Geh lieber wieder rein. Iss dein Mousse. Das ist wirklich lecker.«
Wie auf Kommando dringt aus der offenen Tür hinter dem Prinzen nun das Lied: »Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann«. Außerdem sind meine Knie so weich, dass ich es sowieso nicht bis ins Haus schaffen würde.
Seit wann stehen wir eigentlich so dicht voreinander? Wann habe ich den Teller weggestellt? Hypnotisiert er mich? Ich muss den Kopf ein ganz klein wenig in den Nacken legen. Daraufhin verliere ich mich in seinen haselnussbraunen Augen.
Da ist allerdings noch etwas – etwas hinter dem wachsenden Begehren, dass ich in seinem Gesicht zu lesen glaube: eine tiefe Dunkelheit, ein Schmerz, der so weit zurückreicht, dass er längst Teil seines Wesens sein muss.
Ich keuche erschrocken auf. Zum ersten Mal frage ich mich, wo wohl seine Mutter ist. Vermisst er sie? Ist er deswegen unglücklich?
Nein, es ist schlimmer. Sein Schmerz sitzt tiefer.
Warum kann ich erkennen, was da hinter dieser smarten Maske liegt, hinter dem Lächeln und der Fröhlichkeit, die mir bis zu diesem Augenblick kein einziges Mal aufgesetzt vorkam? Doch ich weiß mit Sicherheit, dass dahinter etwas lauert, was ihn quält.
Das kann ich nicht heilen. Ich will es gar nicht. Mein Leben ist kompliziert genug, auch ohne die Last eines anderen auf meine Schultern zu nehmen. Ich sollte abhauen, allein schon, um mich selbst davor zu schützen, was immer es ist.
»Geh, Jasper«, raunt er nun auch noch.
Ich zittere – nicht, weil es kalt ist. Er hat recht. Ich sollte gehen. Auch wenn die Luft zwischen uns zu knistern scheint. Nicht, dass da noch viel Luft wäre.
Unvermittelt fällt mir das Geschenk wieder ein, das sein Vater für mich hat. Habe ich mich wirklich versteckt, weil ich befürchtete, keines zu bekommen? Oder wollte ich eher der Peinlichkeit entgehen, selbst nichts zurückschenken zu können? Aber seinem Sohn, dem kann ich etwas schenken. Ich kann sein Leid nicht ungeschehen machen, aber es lindern. Ich merke, wie ich innerlich wachse. Ich bin nicht unbedeutend. Ich habe etwas zu geben.
»Ich bin noch drei Tage in München«, flüstere ich, die Worte nur ein Hauch gegen seine Lippen.
Seine Augen weiten sich überrascht. »Jasper«, sagt er heiser.
»Ja«, sage ich entschlossen. »Solange bin ich dein. Frohe Weihnachten, mein Prinz.«
Im nächsten Moment schlingt er seine starken Arme um mich. Ich versinke in seiner Umarmung, spüre seinen Körper, seine Wärme, seinen Herzschlag, seinen Schwanz. Ich weiß, dass er es braucht, dieses Gefühl zu begehren, zu leben.
»Küss mich!«, bettle ich.
»Geduld, Jasper«, knurrt er, Befehl und Verführung zugleich. Der dunkle Unterton in seiner Stimme bringt mein Innerstes zum Schwingen. Ich schmelze dahin. Er hat recht. Ich wollte ja ihm gehören: drei Tage lang. Ich lasse mich fallen, gebe nach, gebe auf. Er hat mein Geschenk angenommen. Nun ist es an ihm, was er damit zu tun wünscht.
Ich sehe ihm wieder in die Augen, glaube zu erkennen, wie die Dunkelheit zurückweicht. Mein Herzschlag beschleunigt sich und mit wird ganz warm. Ich bewirke das. Für ihn!
»Nenn mich Vico«, flüstert er gegen meine Lippen. Dann treffen unsere Münder endlich aufeinander – ein Gefühl, als sei ich direkt im Himmel gelandet.
Frohe Weihnachten, Vico, denke ich noch, und dann denke ich gar nichts mehr.

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