Dienstag, 21. Dezember 2021

[Weihnachtscountdown 2021] Tag 21 - Beitrag 9 - Helen Marie Rosenits

„Liebe und andere Stolpersteine“
(Weihnachtspassage aus Teil 3 der Trilogie von Hannas Geschichte) von Helen Marie Rosenits


Drei Stunden später verteilte Hanna die letzten kleinen Kugeln auf den Zweigen, als ein lautes „Frohe Weihnachten“ hinter ihr ertönte. Gut gelaunt stand Paul im Türrahmen, umarmte sie gleich darauf und küsste sie zärtlich. Nebenbei kraulte er Burgi hinter den Ohren und zauberte einen kleinen Kauknochen für sie aus seiner Sakkotasche hervor.
Lieber Himmel, er weiß, wie er mit Frauen umzugehen hat, Paul – der Kavalier, Charmeur und Verführer, selbst bei ihrem Vierbeiner. Hanna lächelte nachsichtig.
Wie selbstverständlich begann er nun den Tisch zu decken, drapierte ein paar magenta-rote Rosen in einer Vase, verteilte noch einige Teelichter und krönte die Teller mit opulent bedruckten Servietten. Dass er goldlackierte Platzteller, das beste Porzellanservice ihres Geschirrschrankes und das edle Silberbesteck verwendete, war selbstverständlich, schließlich war er Paul, der Ästhet.
„Husch, zieh dich um“, scheuchte er Hanna ungeduldig von dannen und starrte auf Bernhard, der gerade in einer neuen, schlabbrigen Freizeithose und einem gestreiften, kurzärmeligen T-Shirt auftauchte, beides in diversen Blautönen gehalten.
„Ich bin schon umgezogen“, giftete dieser Paul an, als er dessen auffällige Musterung bemerkte. „Und selbst wenn DU heuer zu Gast bist, werde ich mich nicht in einen Anzug und ein Hemd quälen. Wozu auch? Ich will es bequem haben. Das ganze Getue um Weihnachten geht mir sowieso schon seit meiner Kindheit auf den Geist“, schnaubte er nun.
„Wie du meinst. Ich bin auch nicht gerade herausgeputzt“, versicherte ihm Paul und verbarg schnell seine pikierte Miene. „Hab nur meine schwarze Lieblings-Jean und den von deiner Frau ausgesuchten Jacquard-Pullover an. That’s it.“
Flüchtig nur dachte er an Weihnachtsfeste im Smoking und seine Mutter im eleganten Cocktailkleid. Auch übertrieben, womöglich. Aber nur leger? Ohne auf diesen sicher besonderen Tag des Jahres und seine eigentliche Bedeutung, die doch ein Feiern und festliches Hoffen rechtfertigte, Rücksicht zu nehmen? Ratlos schüttelte er unmerklich den Kopf und war ein wenig irritiert.
„Ihr seht beide gut aus, jeder auf seine Art“, kalmierte Hanna nun beim Eintreten und lächelte sie an – in einer tiefdunkelblauen Jean und einem weit ausgeschnittenen, mitternachtsblauen Shirt mit Silberdruck und einigen wie zufällig verstreut aufgenähten, mattglänzenden Pailletten.
„Setzt euch schon hin, während ich das Essen aufwärme und herrichte“, befahl sie ihren beiden Männern, „und legt die Celtic Christmas-CD ein!“
Dann leerte sie die Orangen-Kürbiscremesuppe in die Bouillon-Terrine, drapierte geröstete Toastbrotscheiben in ein zierliches Körbchen, füllte das Boeuf Stroganoff und den Basmati-Reis in Schüsseln und stellte alles auf die Warmhalteplatten auf dem Tisch. Die kleinen Schalen mit dem Vogerl- bzw. Feldsalat wirkten daneben wie grüne, fast tanzende Tupfen in einem weiß-gold-dunkelroten Prunkfeld, Leichtigkeit inmitten von Schwere.
Hanna ließ sich zufrieden auf ihrem Sessel an der Stirnseite nieder, jener Platz, der wohl früher Knigge gerecht dem Patriarchen einer Großfamilie oder Herrn des Hauses zugestanden wäre. Vermutlich doch keine falsche Sichtweise, schließlich war sie der Planet, um den sich ihre beiden Männer drehten. Sie blickte Bernhard und Paul an. Jeder hielt sein Glas zum Anstoßen in der Hand und auch Burgi blickte erwartungsvoll in die Runde.
„Ein schönes Weihnachtsfest euch beiden“, wünschte Hanna mit leiser Stimme und das Lächeln auf ihren Lippen breitete sich zu einem Leuchten in ihren Augen aus. Beinahe zeitgleich hörte sie von zwei sonoren Stimmen „Auch dir frohe Weihnachten“; ein Echo, das sich tief in ihrem Inneren niedersenkte und sich mit dem Duft von Tannennadeln, glänzenden Lichtern, Wärme und Frieden zu einem schwebenden Einklang verwob.

* * *

„Wie war denn bei euch Weihnachten so?“, wollte Paul nach einer Weile wissen, während sie mit Genuss ihre Suppe löffelten.
„Na ja, bei uns gab es zuerst immer das Essen“, erzählte Hanna. „Entweder eine kalte Platte mit Gemüsemayonnaise, Schnittlauch-Dip und allerlei Gebäck dazu oder manchmal auch eine Wursttorte mit Frühlingssauce und Sandwich.“
„Das war offenbar ein Trend der damaligen Zeit“, unterbrach Bernhard sie, „denn bei uns gab es Schinkenrollen mit Mayonnaisesalat und gefüllte Eier mit einem Klacks Kaviar, offenbar die dekadente Antwort auf entbehrungsreiche Jahre.“
Paul lachte. – „Vielleicht auch das blinde Nachäffen von Kochtipps à la Illustrierten wie ‚Die perfekte Hausfrau‘ oder Druckwerken wie die legendären Thea-Kochbücher!“
„Wie auch immer“, setzte Bernhard fort, „erst als ich mich beschwerte, dass ich lieber Schnitzel mit Reis und Kartoffelsalat hätte, hat sich die Tradition bei mir zuhause geändert.“
„Das depperte Essen“, seufzte Hanna abgrundtief und zerbröselte ein kleines Stück Toast. „Immer erst danach erklang das kleine Glöckchen.“ – Sie schnaubte, schien endlich die Ungeduld des kleinen Mädchens von früher herauszulassen. – „Dann durften wir ins Zimmer, wo der Christbaum aufgestellt war. Der reichte stets bis zur Decke, hatte immer weiße Wachskerzen. Die Flammen vervielfältigten sich in den Glaskugeln, sodass es wie ein Lichtermeer wirkte. Ich war jedes Jahr davon verzaubert. Je näher die Deko-Stücke hingen, umso mehr drehten sie sich durch die aufsteigende Wärme.“ – Ein wehmütiges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. – „Das war so anheimelnd und einlullend, dass meine Oma regelmäßig den Kampf gegen ihre Müdigkeit verlor. Selig schlummerte sie im Fauteuil“, klang jetzt ein Schmunzeln durch ihre Stimme, „während wir unsere Geschenke auspackten.“
Hannas Mann nahm einen Schluck von seinem Wein und murmelte etwas von den guten alten Zeiten der 50-ies, 60-ies und 70-ies, die nur im Nachhinein verklärt erschienen, bis ihm wieder seine begonnene Erzählung einfiel.
„Aber eigentlich war uns allen daheim Weihnachten zuwider. Zuerst die wochenlange Kekse-Backerei und das Schmücken des Hauses. Dann noch die Putzorgie meiner Mutter. Sie zwang uns zur Mithilfe wegen etwaiger Besuche, die vielleicht kommen könnten. Und uns doch nur lästig fallen würden, obwohl wir – eh klar – gezwungenermaßen freundliche Nasenlöcher machen mussten.“
Bernhard schüttelte sich vor Grauen und verdrehte die Augen. – „Bitten konnte ich zwar äußern und meine Vorstellungen in den Briefen ans Christkind schreiben. Meine Eltern erklärten mir jedoch schon im Vorhinein, dass sie sich ziemlich sicher nicht erfüllen würden. Sie meinten, dass es im Himmel nicht so viel Geld gäbe, um die Englein die ganzen Sachen besorgen zu lassen. Für diese Riesenzahl an Kindern konnten die hochtrabenden Wünsche einfach nicht Wirklichkeit werden.“ – Er seufzte.
Was war an der Sehnsucht nach einer großen Schwester, einem tollen Ami-Schlitten oder einer Reise zu seiner skandinavischen Brief-Freundin, um mit dieser die Erdgeister ihrer Heimat aufzuspüren, so falsch gewesen? Oder unverständlich an seinem verwegenen Traum, mit den Hexen in der Walpurgis-Nacht mitzufliegen? Oder seinen Seppl, seinen verstorbenen, ersten und heißgeliebten Hund, in der Christnacht, der wichtigsten unter den Raunächten, sprechen hören zu wollen?
Unbemerkt hatte sich Bernhards linke Hand zur Faust geballt. – „Tja, so war es dann auch zumeist“, bemerkte er nun sarkastisch, „ich habe fast nie das bekommen, was ich mir gewünscht hatte.“
Nicht nur damals, sondern immer wieder in den über sechzig Jahren meines Lebens, ergänzte unhörbar seine innere Stimme.
Wut, Enttäuschung und Frust zuckten über sein Gesicht, als er hinzufügte: „Zum Teufel mit den anderen Kindern, die statt mir die Sachen von meinem Wunschbrief erhielten.“
Hätte sein Vater, der den Dichter Rosegger bewundernde Lehrer, nicht ein paar Seiten aus der Sicht von Seppl, dem Haushund, schreiben können und diese am Heiligen Abend ins Fenster legen, um seinem Sohn die Trauer zu erleichtern? Oder seine Mutter ein Automodell des so ersehnten Ford Mustang im lokalen Spielwarengeschäft, an dessen Fenster er sich regelrecht die Nase platt gedrückt hatte, kaufen können?
Tief atmete er zweimal durch. – „Das war noch ein weiterer Grund, weshalb mir Weihnachten ein Gräuel war.“
„Du Ärmster“, meinte nun Paul und konnte sich nicht einmal ansatzweise in Bernhards kindliche Gefühlswelt und Gedanken-Wirrwarr hineinversetzen. – „Bei mir war es genau umgekehrt. Ich wurde mit Geschenken überhäuft, ja regelrecht zugeschüttet. Ich hatte eigentlich keine rechte Freude damit, weil ich dann nie wusste, womit ich zuerst spielen oder mich beschäftigen sollte. Mit der Märklin-Eisenbahn, dem Matador oder dem extragroßen Lego-Bausatz? Es war wie mit dem Essen, das unsere Haushälterin, eine exzellente Köchin, stets als besonderes Festmenü gestaltete. Ich war überfressen – von den Lebensmitteln und den Spielsachen. Mit einem Zuviel konfrontiert, unschlüssig, dann gelangweilt, oberflächlich und leer.“
Er verzog angewidert das Gesicht und wischte gedankenverloren über das Tischtuch, blickte kurz zu Hanna und Bernhard auf.
„Und die Feier selbst bestand im simplen Abspielen von Weihnachtsliedern, gesungen von den Wiener Sängerknaben oder irgendwelchen gefeierten Opernstars. Das war’s. Dann hatte ich mich angemessen und gesittet über den tollen Gabentisch zu freuen. Meine Mutter hingegen musste mit den glitzernden Klunkern, den riesengroßen Perlen oder dem kiloschweren Goldschmuck um die Wette strahlen. – Die Basteleien oder kleinen, mit ungelenken Fingern geschaffenen Geschenke nahm mein Vater kaum dankend entgegen. Obwohl meinem Naturell das Stillsitzen zuwiderlief, hatte ich sie als Kind für ihn bereitgehalten. – Nur meine Mutter freute sich über alles, was auch immer ich für sie vorgesehen hatte, selbst wenn die Papierhülle außen schöner war als die Gabe innen. Sie umarmte und küsste mich und gab mir stets das Gefühl, sie wäre so begeistert, als ob ich ihr die Sterne vom Himmel geholt hätte.“
Ein wehmütiges Lächeln hob ein wenig Pauls Mundwinkel und eine Liebe voller Wärme und Trauer huschte über seine Augen, die plötzlich ganz dunkel, beinahe wie ein schwarzer, hinabziehender Strudel wirkten. Hanna bemerkte es, als sie den Kopf hob und zu ihm hinsah, zuckte zusammen und vermochte kaum mehr weiterzuatmen.
Eine andere Zeit, hässliche und schöne Bilder, diametrale Gefühle – wie ein quälender Knoten aus wohl gehüteten Tiefen emporgestiegen, im Hals sitzend, um Tränen auszulösen oder ein Schluchzen. Sie kannte die gleichen Gedanken, die gleichen Gefühle, die gleichen Schmerzen. – Alles mit Willensstärke und Gewalt zurückgedrängt, hinuntergeschluckt. Nein, nichts, kein Bedauern, keine Wut konnten die Vergangenheit mehr ändern.
Für Sekunden war die Zeit stillgestanden und hatte sie mit Pauls Fühlen eins sein lassen. Sie kannte nur zu gut diese Herzenszimmer, wo die Narben unverrückbar gefangen waren, bewacht von Stacheldraht. Sie holte tief Luft, schüttelte diese Beklommenheit ab, konzentrierte sich auf die brennende Flamme vor ihren Augen und begann nun ihre Geschichte weiterzuerzählen.
„Bei uns wurde zuerst eine Weihnachtsgeschichte gelesen, meistens von Karl Heinrich Waggerl oder aus einem der anderen saisonalen Bücher. Danach haben wir gemeinsam einige Weihnachtslieder gesungen, innig und mit dem zumeist scheiternden Versuch einer Zweistimmigkeit“, blinzelte sie Paul an, „relativ textsicher – der Pädagogin sei Dank! – , aber kaum publikumsgeeignet.“ – Nun lachte sie verhalten, bereit, Paul langsam aus seinem Emotionslabyrinth zu holen. – „Um einen perfekten Abschluss der Musik-Performance zu gewährleisten, haben wir am Ende stets dem ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ der Wiener Sängerknaben vom Plattenspieler gelauscht. Dann jedoch war es endlich soweit. Meine Ungeduld und mein beklommenes Sehnen hatten ein Ende. Mit steigernder Freude durfte ich die auf dem Sofa ausgebreiteten Geschenke auspacken. Einzelkind, das ich war, blieb kaum ein Mädchenwunsch unerfüllt, wurde ich mit elterlicher Liebe und Großzügigkeit zugeschüttet. Und über all diesen bunten, glitzerschleifenverzierten Paketen thronte auf der Lehne immer die sogenannte Christkindl-Puppe.“
Die hinaufgezogene Braue von Paul spürte Hanna mehr, als sie diese sah. Erleichtert atmete sie unhörbar durch und war komischerweise ein kleines bisschen stolz, ihn bloß mit ihren Worten aus seinem Loch vorsichtig herausgelockt zu haben.
Um die unausgesprochene Frage zu beantworten, berichtete sie weiter: „Nun ja, das war eine streng gelockte Blondine in einem rosa Tülltraum mit Rüschen und Silberstickereien sowie Silberbordüren auf dem Stoff. Sie war vielleicht siebzig Zentimeter groß, konnte Arme und Beine und den Kopf bewegen und hatte strahlend blaue Augen. Ich durfte sie vorsichtig halten, ehrfürchtig an mich drücken und kriegte sie immer nur am Heiligen Abend zu Gesicht, dann wurde sie wieder weggeräumt. Das heißt, meine Familie sagte mir, dass sie wegfliegen würde und mich erst wieder in einem Jahr besuchen käme. Aber auch nur, wenn ich brav sei.“
Freude über die damaligen Eindrücke lag in Hannas Augen, doch sie schluckte ein paar Mal, denn die Erinnerung machte ihre Stimme brüchig. Leiser fuhr sie nun fort. – „Vermutlich war die Puppe damals ziemlich teuer und meine Eltern hegten die Befürchtung, dass sie bei intensiverem Gebrauch nicht durchhalten würde; nämlich die paar Jahre, bis der Glaube ans Christkind sich von selbst verflüchtigen würde. Dabei ging der schon viel früher verloren. Doch ich hab sie im Ungewissen gelassen, weil sie sich immer so gefreut haben, wenn ich so tat als ob. Ein verstohlener Blick durchs Schlüsselloch, wo ich meinen Vater die Tanne schmücken sah. Geflüsterte Sätze, als man mich schlafend wähnte. Die mütterliche Hand, die zwischen die Fensterflügel griff – nach dem deponierten Brief ans Christkind. All das hat mir die verborgene Wahrheit viel früher enthüllt.“
„Ein fürwitziges, schlaues Kind. Eigenschaften, die sich vertieft und noch mehr ausgeprägt haben“, klang Pauls Stimme leise feststellend, vielleicht auch bewundernd, an ihr Ohr, während er ihr flüchtig, zärtlich über den linken Handrücken strich.
Das war die Vergangenheit. Und die Gegenwart? Bedächtig drehte Hanna ihr Glas zwischen den Fingern, entfernte mit einer leichten Bewegung ihrer Zunge den letzten Tropfen Wein von ihren Lippen. Die Bilder von früher und von heute standen sich gegenüber, waren so diametral und ergaben doch ein Ganzes. Sie räusperte sich.
„Vor kurzem habe ich bei meinem Vater im Keller geputzt und ein wenig für Ordnung gesorgt. Da ist mir in der Nische unter der Kellerstiege ein Karton in die Hände gefallen. Als ich den staubigen, von Spinnweben umhüllten Deckel vorsichtig geöffnet habe, kam mir eine rosa-graue Stoffwolke entgegen. Verwirrt ergriff ich das Etwas und brachte es ins Sonnenlicht. Ihr werdet es nicht glauben, aber es war mein heißgeliebter Weihnachts-Puppentraum, kaum noch als solcher zu erkennen.“
Ein Ton entrang sich Hannas Kehle, zwischen bitterem Lachen, staunendem Unglauben und wehmütiger Erkenntnis.
In einer zitternden Geste fuhr sie sich durchs Haar und erzählte weiter: „Meine Güte, rosa gefärbter Kunststoff, an ein paar Stellen zerkratzt und abgewetzt. Billiges blondes Plastikhaar, in verschieden großen Rollen an das Haupt geklebt. Von der Enge im Karton verdrückt, an der linken Seite emporgehoben, darunter eine graue Kahlheit freigelegt. Grelle, blau aufgemalte Augen mit ungleich klimpernden Lidern. Offenbar hat der Mechanismus dahinter der Zeit unregelmäßig Tribut gezollt. Das leuchtende Rosa des Tülls verschieden verblasst und ergraut. Die Rüschen verbogen, verknittert und alles Silbrige mit einem Hauch Rost überzogen. – Ich starrte einen Zombie meiner Christkindl-Puppe an, eine Karikatur meiner Kindheitserinnerungen.“
Bernhard und Paul hörten die Enttäuschung in ihrem Bericht, dachten über ihr Bekenntnis nach und wollten sie schon irgendwie trösten, als sie weitersprach: „So viel Schönes wird vom Leben eingeholt, der Realität des Erwachsenseins unterworfen und der kindlichen Fantasie beraubt, bis nur mehr Nüchternheit und Kälte übrig bleiben. Träume und Wärme weggeweht wie der Staub von diesem rosenroten Stoff.“
Resigniert und verbittert klangen zum Schluss ihre Worte, schlicht und traurig. Ihre Schwermut war greifbar, wollte sie erneut einfangen und selbst an diesem besonderen Abend vereinnahmen.
„Drum lass die Gedanken wieder fliegen, hol dir deine eigene Wärme ins Herz“, zögerte Paul keine Sekunde mit seiner Antwort, während sich Bernhard bloß zu einem zustimmenden Brummen aufraffen konnte. „Schaffe dir deine individuelle Welt im Kopf. Zaubere dir deine persönliche Sonne ins Herz. – Du hast damit doch bereits begonnen, als du Geschichten erdacht und zum Schreiben angefangen hast; wenn du quasi Bilder mit deinen Worten malst.“
Fast beschwörend drangen Pauls Worte an Hannas Ohr. Er war entschlossen, sie nicht in eine depressive Stimmung fallen zu lassen. Er musste und wollte sie ablenken. Bloß wie?
„O je, nicht schon wieder!“, versuchte Bernhard die Stimmung umzudrehen und blickte beide genervt an. „Kommt jetzt eure Autorenfachsimpelei?“, meinte er in gespielt-gequältem Tonfall.
Als ihn zwei Augenpaare erstaunt, irritiert und wie einen unerwünschten Störenfried musterten, löffelte er schnell die Reste seines Desserts, hob entschuldigend die Schultern und fühlte sich wie ein gemaßregeltes Kind. Langsam stand er auf, voller Unbehagen und Ratlosigkeit.
In einer verlegenen Geste bewegte er seine Arme, ließ sie wieder sinken und murmelte: „Entschuldigt bitte, da kann ich nicht mithalten. Ich bin eh schon müde und zieh mich zurück. Vielleicht lese ich ein wenig in einem der Krimis, die ihr mir so großzügig geschenkt habt.“ – Unbehaglich blickte Bernhard von einem zum andern. – „Nicht böse sein! Ich leg mich lieber nieder. Wünsche euch eine gute Heilige Nacht! Und danke für alles.“
Dann drehte er sich um, war weg, so schnell konnten Hanna und Paul gar nicht schauen, sahen nur den gebeugten Rücken und die herabhängenden Schultern. – Ungestellte Fragen, Hilflosigkeit und das Gefühl einer wachsenden Mauer blieben zurück.
Dass zwei Zimmer weiter zehn Finger über Tasten hasteten und geäußerte Gedanken und ausgedrückte Gefühle sich über die drahtlose Weite binnen Sekunden zu einer Empfängerin namens Linda auf den Weg machten, entging dem rätselnden Paar, das sich vom Essbereich entfernte, um es sich auf den breiten Sofas im Wohnzimmer bequem zu machen.

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