Montag, 6. Dezember 2021

[Weihnachtscountdown 2021] Tag 6 - Beitrag 1 - Diana Lapescara

Filupina
Eine Kurzgeschichte von Diana Lapescara



Als Filupina auf die Welt kam, lag sie mit etwa 300 Geschwistern auf der Unterseite eines Brokkoli-Blattes, Ihre Eihülle war wie die der anderen quittengelb und winzig klein. Kleiner als ein Stecknadelkopf.
Ihre Mutter, Frau Fipa Kohlweißling, wählte den Platz wie schon alle ihre Vorfahren mit Bedacht, damit ihre Kinder sofort einen reich gedeckten Tisch vorfinden.
Kurz zuvor hatte es geregnet aber jetzt in diesem Moment lugte die Sonne hervor und erwärmte die Natur. Sämtliche Pflanzen reckten die Triebe in ihre Richtung und man hätte meinen können, das Gras wachsen zu hören. Ebenso die kleinen Brokkoli-Pflänzchen mit samt ihren Mitbewohnern.
Das ideale Wetter für die Kinderschar, die einen großen Appetit an den Tag legte. Schon am nächsten Morgen erwachten die Pflanzen mit einigen Löchern, die nach und nach größer wurden.
Aus den Eiern verwandelten sich winzig kleine Raupen, die in Reih und Glied aneinander gekuschelt schliefen oder aßen. Sie alle blieben unbemerkt auf den Blattunterseiten der Kohlpflanzen. Einige schliefen noch in ihren Eizellen, doch anderen ging es nicht schnell genug und sie drängelten sich immer wieder vor, um an die saftigen grünen Blattadern zu gelangen. Sie fühlten sich wie im Schlaraffenland.
Aber es gab nicht nur die vielen Kinder von Frau Fipa im Umkreis, sondern viele, viele anderen Verwandte aus dem Hause Kohlweißling, die ebenso ihre Kinder auf die Blattunterseiten der Brokkoli-Pflanzen absetzten.
Filupina schlief in ihrer schützenden Eihülle, während ihre Geschwister fast alle geschlüpft waren. Sie galt als Nachzüglerin. Sie entpuppte sich erst, als die meisten ihrer Brüder und Schwestern grün gekringelte Räupchen waren.
Die kleinen gefräßigen Gesellen futterten was das Zeug hielt und so minimierte sich das Nahrungsangebot beträchtlich.
»Hey, das ist mein Platz. Verschwinde von meinem Blatt!«, schrie ein Halbstarker kauend.
Schweigend zog der andere weiter. Vorsichtig hangelte er sich auf eins der inneren jungen Triebe, leckte sich und naschte an einem der zarten Blätter. Obwohl er ebenso an diesem Platz nicht allein war, meckerte niemand mit ihm.
Doch dann geschah etwas.
Plötzlich hörte man keine Kaugeräusche mehr. Unheilverkündende Stille.
Die Erde zitterte ein wenig und Filupina erschrak. Sie kringelte sich wie ein winziges Ringlein zusammen und klammerte sich an der Blattunterseite, wo sie vor nicht einmal zwei Stunden geschlüpft war. Das Blatt bog sich zur Erde, den die Pflanze sah auf dem Feld wesentlich kleiner und mickriger aus. Eher wie eingeklemmt.
Filupina schnupperte. Es roch nach Erde und Schafsmist. Dann spürte sie etwas.
Komisch, dachte sie laut. »Warum regnet es, obwohl die Sonne scheint?«
»Hatschi« Regen kannte sie schon. Der riecht nicht so seltsam. Das war auch kein richtiger Regen, sondern eher ein stinkender Nieselregen. Sie verdrehte die Augen und schlief ein.
Als Filupina aufwachte, erschrak sie. Um sie herum lagen viele ihrer Geschwister. Die dicken und auch die kleinen dünnen Raupen lagen mit offenen Augen auf der Erde.
Langsam glitt Filupina vom Blatt herunter auf die Erde und kroch zu den anderen. Sie berührte eine nach der anderen. Aber nichts geschah. Alle waren auf der Stelle tot.
Tausende ihrer Geschwister. Der Anblick trieb der kleinen Raupe Tränen in die Augen. Im letzten Moment entdeckte sie etwas am Boden zappeln. Rasch kroch sie zu ihrer Schwester, die hustend ihr zu rief:
»Verschwinde, verschw. …«, stotterte diese mit letzter Kraft und fiel tot um.
Was war geschehen?
Die kleine Raupe hatte überlebt. Aber sie war mutterseelenallein daher weinte sie laut.
»Ich habe niemanden mehr«, jammerte sie.
Da war es wieder. Lärmend rumpelte ein stinkender Traktor aufs Feld und ließ die Erde zittern. Hustend huschte Filupina unter ein Kohlblatt.
Vorsichtig lugte sie aus einem Loch im Blatt und guckte auf das Ungetüm, das etwas hinter sich herzog. Gebannt starrte sie auf das Geschehen.
Bauer Michels hielt den Traktor an, kletterte aus dem Führerhaus. Schimpfend zog er einen gelben Plastikanzug aus und warf diesen zusammen mit den langen blauen Gummihandschuhen und einer Giftspritze auf den Anhänger. Mit zusammen-gekniffenen Augen betrachtete er sein Werk, schwang sich zurück auf den Traktor und verschwand.
Zurück blieb eine kleine zitternde Raupe mit einer abgefressenen Brokkoli-Pflanze. Selbst diese Pflanze hatte aufgrund der Gefräßigkeit Filupinas Artgenossen, keine Chance mehr zu überleben.
Filupina legte sich zu ihrer Schwester und dachte: »Lieber Vogel, hole mich und verfüttere mich an deine Kinder. Ich mag nicht mehr leben, wenn meine Familie gestorben ist.«
Aber kein Vogel kreiste über dem Feld. Allmählich dämmerte es und die Sonne verschwand hinter dem Hügel. Abendrot verkündete einen sonnigen nächsten Tag. Die kleine Raupe schloss die Augen und träumte.
»Eins, zwei, drei... im Gleichschritt... Accccchhhtung!«
Beinahe wäre die komplette Mannschaft auf den General gefallen.
Die letzten Ameisen rannten wild umher und schrien:
»Wo ist der Weg? Wir sind verloren.«
Der General achtete nicht darauf. Er beugte sich über die kleine Raupe. Dann stoppte er.
»Fein, Futter«, rief ein kleiner Ameisenjunge. Filupina lag still und bewegte sich nicht.
»Seltsam, da liegen doch noch viel mehr Raupen.« Der General rieb sich mit einem Fühler über den Panzer.
Ein paar Arbeiter rannten auf ihn zu und wollten die kleine Raupe schon anheben und in den Ameisenbau abtransportieren.
»Stopp! Nicht anfassen! Die sind alle vergiftet und das können wir nicht riskieren.«
In dem Moment bewegte sich Filupina.
Wieder beugte sich der General herunter. Doch er traute sich nicht, die kleine Raupe zu berühren.
»Wer bist du?« Seine Stimme krächzte, sodass Filupina erschauderte.
»Ich, ich b..b...bin ...«
Er strich sich mit dem Bein über die Fühler. Filupina schlotterte am ganzen Leib und brachte keinen Ton heraus.
»Herr General, ist das nicht ein köstlicher Kohlweißling?«
»Rrrichtig erkannt mein Junge. Aber das soll erst einmal ein schlohweißer Schmetterling werden. Jetzt ist es, Verzeihung mein Fräulein, eine winzig kleine grüne Raupe.« Beinahe hätte er „leckere Raupe“ gesagt. Schnell räusperte er sich. »Wenn sie nicht bald was zu futtern bekommt, dann …« Er beugte sich zu der anderen Ameise und tuschelte ihr etwas zu.
»Ich wollte ja gerade futtern.« schrie das Räuplein. Ihre Augen glänzten. Tränen kullerten auf die Erde. Dann ließ sie den Kopf sinken und weinte. »Ich muss wie meine Brüder und Schwestern sterben.«
Der Ameisenjunge stand traurig neben Filupina und streichelte ihr Köpfchen.
»Du hast schöne Augen.«, flüsterte er und zerrte ein angefressenes Kohlblatt heran. Filupina schluchzte und aus den Augenwinkeln sah sie ihm zu, wie er sich abmühte.
»Lass es!«, jammerte sie mit tränenerstickender Stimme.
»Ähm, warum?«
»Es hat keinen Zweck.«
»Du sollst nicht sterben!«
»Doch. Der Bauer hat alles vergiftet.«
»Was sagst du da?«, mischte sich jetzt der General ein und schaute sich suchend um.
»Stimmt, hier ist alles anders. Wo ist unsere Läusemelkstation? Sind die etwa ver....« Er mochte das schreckliche Wort nicht aussprechen.
Filupina nickte.
»Komm iss ein wenig!«, ermunterte Carlos das kleine Räuplein und schob ihr das winzige grüne Stückchen Kohlblatt zu.
Filupina biss hinein aber Appetit mochte nicht aufkommen. Immer noch dachte sie an ihre Familie.
»Deckung!«, schrie eine Ameise und plötzlich waren alle verschwunden. Der strahlend blaue Himmel verdunkelte sich für einen Augenblick und Filupina erkannte einen schwarzen Vogel, der auf die Erde zusteuerte.
Die kleine Raupe blieb auf dem Blattrand und bewegte sich nicht. Entweder er holt mich jetzt, oder ich überlebe. Mit diesem Gedanken schloss sie die Augen und wartete auf ihren Tod.
Aber der Vogel war etwas kurzsichtig und stocherte in der der Erde herum.
»Da war doch was«, sprach er laut zu sich selbst. »Ergib dich, da brauch ich dich nicht so lange suchen. Ich mache es kurz und schmerzlos«, fiepte er.
Als Filupina in der Falte des Blattes lag, dachte sie daran, sich zu stellen, um dem Vogel eine kleine Mahlzeit zu bieten. In dem Augenblick hörte sie etwas.
»Hi, hi. Hört auf! Ich bin kitzlig.«
Die Ameisen hatten sich todesmutig auf den Raben gestürzt, um die kleine Raupe zu schützen. Der Vogel schlug mit den Flügeln um sich und schließlich erhob er sich in die Luft.
Wieder standen die Ameisen vor der kleinen grünen Raupe und strichen sich die Vorderfüße, als würden sie ihre Hände waschen.
»So, das hätten wir geschafft. Jetzt besorgen wir dir ne Kleinigkeit zum Essen.«
Wieder überlegte der General und kratzte sich am Hinterleib.
»Ich kenne da einen Garten. Der ist aber etwas weit. Wir werden dahin wandern. Da finden wir alle etwas zu essen.«
»Essen, essen. Mama wir haben Hunger«, schrien die jüngsten Ameisen von hinten.
»Kinder, wir gehen gleich los.«
»Wir nehmen dich am besten gleich mit«, sagte der General.
Filupina kroch vom Blatt und rutschte auf die Erde. Sie lag im Sand und konnte sich nicht mehr bewegen. Ihre Augen sahen trüb aus.
»Ich kann nicht mehr. Geht ohne mich. Ich bleibe hier.«
Carlos kam auf sie zu gerannt.
»Nein, ich lass dich nicht allein.«
»Dann werden wir sie tragen.« Der General hob seinen Kopf und schaute in die Runde seiner jungen tapferen Krieger.
»Du, du und du da. Antreten!«
Die auserwählten traten vor, hoben vorsichtig den grünen Leib auf ihre Schultern und schon hörten sie das Signal.
»Eins, zwei, drei. Im Gleichschritt!«
Der General kannte den Weg genau und stapfte voran.
Nach ein paar Stunden erreichten sie den Garten. Das Räuplein ließen sie sanft ins Gras sinken.
Der Morgen graute. Ein paar Tautropfen hatten sich auf Salatblättern gesammelt. Die Luft roch würzig nach Pfefferminze.
Als Filupina die Augen aufschlug, sah sie sich in ihrer neuen Umgebung um. Sie war auf dem langen Weg eingeschlafen und hatte vom Paradies geträumt.
Als sie ihren Leib reckte, war ihre grüne Farbe verblasst. Die schwarzen Punkte, auf die ihre Artgenossen so stolz waren, verschmolzen mit der grünen Farbe. Die Härchen, die wie bei einem Punker in der Regel aufrecht stehen, lagen wie dürres Gras auf dem Leib. Filupina seufzte, als sie sich in einem Wassertropfen spiegelte. In diesem Moment kam Carlos angerannt. Er stolperte über ein altes Schneckenhaus.
»Ich habe Nahrung für dich entdeckt. Da kannst du dich endlich satt essen. Komm hier entlang!« Mit letzter Kraft kroch Filupina ihrem Freund hinterher.
Dann sah sie es selbst.
Große prächtige Kohlrabis standen in Reih und Glied wie auf einer Schnur. Ganz gerade und ohne ein einziges Löchlein.
Filupina glänzten die Augen. »Ist das schön.«
»Auf jetzt! Das ist alles für dich. Da wirst du bestimmt satt und kannst dich in Ruhe verpuppen.«
»Ja und da ist kein Gift?«
»Nein«, schaltete sich der General ein. »Ich kenne die Leute.«
Dankend sank die kleine Raupe in die Arme ihres Retters.

Keine Kommentare:

[Challenge] Buchsparen by Nika 2025

Pro Buch vom SuB gebe ich 2€ in das Sparschwein. Pro Buch das neu ist gebe ich 1€ in das Sparschwein. Pro Buch, das ich testlesen darf gebe ...